Es ist unruhig geworden in den Gegenden der britischen Großstädte, die einen hohen Anteil an Muslimen haben. Im Londoner Bezirk Tower Hamlets ist dies keine Neuigkeit. Rechtsextreme verübten Ende der Siebzigerjahre einen Mord an einen jungen Bewohner mit muslimischen Hintergrund. Es war eine von vielen rassistischen Attacken, denen muslimische Migranten in dieser Gegend ausgesetzt waren und sind. Heute allerdings hat die Angst die Seite gewechselt.
Die Konflikte, die sich seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem folgenden israelischen Krieg in Gaza in vielen westlichen Städten zeigen, haben auch im öffentlichen Raum Londons Spuren gezogen. Die Zahl antisemitischer Vorfälle stieg in Großbritannien im vergangenen Jahr um 147 Prozent, mehr als die Hälfte aller Taten zählte eine britisch-jüdische Sicherheitsinitiative, im Großraum London. Eine muslimische Bürgervertretung, die antimuslimische Vorfälle auswertet, zählte 2.000 Ereignisse seit Anfang Oktober, davon ein Viertel in London, und errechnete Steigerungen von mehr als 300 Prozent.
Nun hat die britische Regierung letzten Monat neue Extremismusdefinitionen veröffentlicht, um damit jene Gruppierungen im rechtsextremen oder islamistischen Spektrum zu beeindrucken, die zu den Urhebern von Straftaten und Anfeindungen gehören könnten. Als extremistisch gilt jetzt die Förderung von Ideologien, „die auf Gewalt, Hass und Intoleranz gründen“ und darauf zielen, „die fundamentalen Rechte und Freiheiten anderer zu negieren und zu zerstören“, oder die liberale parlamentarische Demokratie im Königreich zu gefährden oder „mutwillig ein permissives Umfeld für andere zu erzeugen, um diese Ziele zu erreichen“.
Die Atmosphäre auf vielen Plätzen in den migrantisch geprägten Vierteln in Großbritannien beeinflussen diese Formulierungen nicht unmittelbar. Ein konservativer Unterhausabgeordnete erntete eine entrüstete Kritik des zur Labour-Partei gehörenden Londoner Bürgermeisters, nachdem er gesagt hatte, Teile solcher Viertel seien mittlerweile „No-go Areas“, also Gegenden, in die man keinen Fuß mehr setzen könne. Er erläuterte, es gehe um Gegenden, „in denen eine kleine Minderheit von Leuten anderen das Leben schwer macht, weil die nicht zu ihrer Religion, ihrer Kultur gehören“. Unterstützung erhielt der Abgeordnete vom Antiextremismus-Beauftragten der Regierung, der bemerkte, an manchen Tagen würde ganz London zu einer „No-go Zone“ für Juden, wenn propalästinensische Demonstrationen mit antisemitischen Sprechchören „From the river to the sea“ durch die Stadt zögen.
Der Staat könne wirksamer gegen muslimischen Extremismus vorgehen, beteuern andere, und zählen auch Beispiele auf: Die iranische Regierung habe kein unveräußerliches Recht, Schulen und Moscheen in London zu betreiben, es sei auch kein unveränderbares demokratisches Prinzip, dass die Hamas und die Muslimbruderschaft eine Vielzahl von Wohlfahrtsinitiativen betreiben dürften. Alle diese Dinge seien in Großbritannien normal geworden. Es habe sich vielerorts schon ein „permissives Umfeld für Radikalisierungen entwickelt“, das dringend verändert werden müsse.
Anwohner berichten von einer steigenden Radikalisierung. Seit dem vergangenen Oktober sei die Atmosphäre in Viertel wesentlich aggressiver geworden, stellen sie fest. In Hauptstraßen solcher Bezirke, die hauptsächlich von Muslimen mit Wurzeln in Pakistan und Bangladesch dominiert wird, tauchten schnell pakistanische Flaggen nach dem 7. Oktober auf, hinter Fensterkreuzen, aber auch an Laternenmasten und Verkehrsschildern. Manche hingen direkt über den Halterungen von Überwachungskameras der Polizei.
Nicht nur stiller Protest wird gezeigt, auch offene Gewalt wird mittlerweile ausgeübt. Ende Dezember wurde der Gemeindemitarbeiter einer Kirche in Tower Hamlets ins Krankenhaus eingeliefert. An der Tür des Gemeindezentrums sei ein Mann erschienen, der zunächst gewirkt habe, als ob er Hilfe suche, der dann aber ausnehmend gewalttätig wurde, um sich schlug und den Gemeindehelfer dabei ernsthaft verletzte. Ob das Kreuz auf der Kleidung des Mitarbeiters die Aggression hervorrief und ob der Täter ein islamistisches Motiv hatte, blieb offen. Der Kleidung nach könne es ein Afghane gewesen sein, so Zeugenaussagen. Die Alarmierung des Polizeinotrufes habe keine schnelle Hilfe gebracht, sondern bloß eine Bearbeitungsnummer. Schließlich habe sich der Angegriffene zum Wachmann des Supermarkts an der Hauptstraße gerettet. Ein Polizist sei auch später nicht erschienen, stattdessen habe er einen „Hate-Crime-Bericht“ am Computer ausgefüllt und abermals eine Bearbeitungsnummer erhalten. Wenn es Schmierereien an der Kirchenwand gebe, „zum Beispiel rote Teufelchen mit der Beschriftung ‚Allah is watching you‘“, dann rücke allerdings rasch die Anti-Graffiti-Einheit des Stadtbezirks an und mache die Fassade wieder sauber.
Viele christliche Gemeinden im Bezirk können über Belästigungen berichten. Gemeindeschwestern einer brasilianischen Kirchgemeinde seien in ihrem Ornat bespuckt worden. Im Royal London Hospital, dem größten Krankenhaus der Gegend, gebe es einen interreligiösen Gebetsraum, in dem Unbekannte neulich Altar und Tabernakel geschändet und Gebetsbücher zerrissen hätten. Die Menschen vor Ort ärgert dabei besonders die Diskrepanz zwischen diesen Wirklichkeiten und den kulturtoleranten Sonntagsreden, die von offiziellen Stellen stets gepredigt werden. Es gebe ein „interreligiöses Forum“, das aber keine Wirkung entfalte, und allerlei Schaufenster-Veranstaltungen.
Der Bezirk Tower Hamlets wird von L. Rahman regiert, einem direkt gewählten Bürgermeister bengalischer Herkunft, der vor eineinhalb Jahrzehnten aus der Labour-Partei ausgeschlossen wurde wegen des Verdachts des Wahlbetruges und islamistischer Verbindungen. Rahman kandidierte daraufhin als Unabhängiger für den Bürgermeisterposten und gewann. Später wurde er wegen weiterer Unregelmäßigkeiten zum Rücktritt gezwungen und einige Jahre von politischen Ämtern ausgeschlossen. 2022 kehrte er ins Bürgermeisteramt zurück – und brachte eine von ihm gegründete Partei mit, die jetzt die Mehrheit der Gemeinderatssitze hält.
Die neueste Meldung aus Tower Hamlets lautet, dass Rahman die Entfernung aller Palästina-Flaggen verfügt hat, die an öffentlichem Gut befestigt sind, also an Laternenmasten oder Verkehrsampeln. Die Begründung des Bürgermeisters enthielt eine Opfer-Umkehr: Die Flaggen seien ins Visier der Medien geraten, deren Berichte viele falsche Behauptungen und islamophobe Schmähungen enthalten hätten. Tower Hamlets, der Ort mit dem höchsten muslimischen Bevölkerungsanteil Großbritanniens, sei so zu einem Ziel von Attacken geworden.
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