Die Menschen in Gaza sind müde und traurig. Seit Monaten sind sie auf der Flucht, trotz Hoffnungsschimmer durch mögliche Ankündigungen eines Waffenstillstands ist ein Ende immer noch nicht in Sicht. Nach den ersten Wochen des Krieges sind Hunderttausende aus Gaza-Stadt in den Süden nach Rafah geflohen, jetzt, nachdem Israels Armee auch in Teile der Stadt an der Grenze zu Ägypten einmarschiert ist, sind viele wieder in den Norden geflüchtet. „Es fühlt sich an, als würde man sinnlos hin und her gejagt“, sagen sie.
Sie sind es, die wütend auf Israel und die Hamas sind, die mit ihrem Terrorangriff vom 7. Oktober so viel Leid und Zerstörung über den Gazastreifen gebracht hat. „Die Hamas ist eine Mafia. Wir sind ihr völlig egal“, hört man vielerorts. Nach mehr als acht Monaten Krieg, etlichen Vertreibungen und Zehntausenden Toten sind viele Palästinenser in Gaza mit ihrer Kraft am Ende. Das bekommt auch die Hamas zu spüren.
Vor dem Einmarsch der Israeli in Rafah gab es dort wiederholt kleinere Demonstrationen gegen die Islamistengruppe und wer mit Leuten aus dem Gazastreifen spricht, hört immer wieder Verwünschungen. Offen über die Hamas reden wollen aber die wenigsten. „Wenn ich einmal aus Gaza draussen bin, spreche ich gerne darüber“, sagt jemand einer Journalistin aus Europa. „Aber jetzt ist das zu gefährlich. Ich will ja nicht mit einer Kugel im Kopf enden.“
Auch nach Monaten des Krieges ist die Hamas im Gazastreifen weiter präsent. Zwar sind viele ihrer Kämpfer bei den Luftangriffen der Israeli getötet worden. Noch immer aber liefern sich ihre Truppen mit der Armee ein Katz-und-Maus-Spiel: Kaum haben die Israeli eine Gegend gesichert, tauchen die Hamas-Kämpfer wie aus dem Nichts anderswo auf. Die Führungsebene um Mohammed Deif und Yahya Sinwar sowie die verbliebenen Geiseln konnte Israel bis heute nicht ausfindig machen.
Die Hamas sei überall präsent – auch wenn man ihre Kämpfer kaum sehe, sagt ein Mann aus Gaza. Das liegt an den zahlreichen Tunneln, die die Terrororganisation unter den Städten des Küstenstreifens gegraben hat – aber auch daran, das die Islamisten in der Bevölkerung tief verwurzelt sind und sich unbemerkt in der Menge bewegen können. Fast zwanzig Jahre haben sie hier geherrscht, Bürokratie und Gesellschaft durchdrungen, Abweichler mundtot gemacht und angebliche Kollaborateure hingerichtet.
Bis heute sei das so, sagen auch palästinensische Politologen. Die Hamas kontrolliere noch immer den Verwaltungsapparat oder das, was davon noch übrig sei. Die Organisation habe es geschafft, trotz den pausenlosen israelischen Angriffen ihre Autorität zu bewahren. „Ohne die Erlaubnis der Hamas kommt bis heute keine Hilfe in den Gazastreifen.“
Dass die Hamas auch aus dem Untergrund heraus Kontrolle ausüben kann, liegt aber nicht nur an der Einschüchterung der Bevölkerung. Die islamistische Bewegung, die 2006 die letzten palästinensischen Wahlen gewonnen hat, könne innerhalb der Bevölkerung bis heute auf Unterstützung zählen, schreibt ein palästinensischer Thinktank, der regelmäßig Umfragen im Gazastreifen und im Westjordanland durchführt. Bei der letzten solchen Befragung vor zwei Monaten stellte er fest, dass die Zustimmung zur Hamas in Gaza angesichts der Zerstörungen des Krieges zwar nachgelassen habe. Rund 25 Prozent ihrer Unterstützer habe sie verloren. „Gleichzeitig sagt aber eine grosse Mehrheit der Palästinenser, dass der Hamas-Angriff vom 7. Oktober gerechtfertigt gewesen“ sei, 70 Prozent unterstützten das Vorgehen.
Der 7. Oktober sei ein Akt des Widerstands gewesen, sagt eine Frau, die aus Gaza geflohen ist, deren Familie sich aber noch immer im Kriegsgebiet befindet. Sie hege auch keine Wut gegen die Hamas. Politisch habe sie mit den Islamisten nichts zu tun. Aber die Kämpfer der Kassam-Brigaden – des militärischen Arms der Hamas – seien Verteidiger Palästinas. „Es sind die Söhne unseres Landes, und wir stehen hinter ihne“, so die Frau gegenüber einem Journalisten.
Die weiterhin starke Unterstützung der Hamas sei auf zwei Dinge zurückzuführen, glauben Experten aus der Region: Einerseits seien die Menschen wütend auf Israel und den Krieg. Anderseits fehle es auch an Alternativen zur Hamas. So speise sich die Unterstützung für den Terrorakt der Islamisten auch aus der Enttäuschung über die andere grosse Palästinenserpartei, die Fatah von Mahmud Abbas. Die Fatah gelte als korrupt und sei in der Bevölkerung regelrecht verhasst. Die Hamas hingegen habe die Palästinafrage mit dem brutalen Überfall auf Israel wieder aufs Parkett gebracht. Das werde ihr angerechnet. Dass ausgerechnet die Fatah – wie von den Amerikanern und den Golfstaaten diskutiert – in Zukunft in Gaza die Macht übernehmen soll, erscheint palästinensischen Beobachtern deshalb vollkommen abwegig. Es sei keine realistische Option, die Hamas wäre dort zu mächtig. Sie könne eine neue Verwaltung auch aus dem Untergrund heraus unterwandern.
Es gebe nur einen Weg, die Islamisten tatsächlich von der Macht zu verdrängen. Dafür brauche es eine komplett neue palästinensische Führung, die in allgemeinen Wahlen bestimmt wird und somit über echte Legitimität verfügt. Doch dazu können sich bisher weder Israels rechts-religiöse Regierung von Benjamin Netanyahu noch die sich verzweifelt an ihre Macht klammernden Fatah-Kader um den greisen Abbas durchringen.
Die Hamas-Führung scheint das zu wissen. Auch deshalb geben sich die Bosse im Exil wieder zuversichtlicher als noch vor ein paar Wochen, als sie fast schon verzweifelt auf eine Waffenruhe drangen. So liess der Politbürochef Ismail Haniya in Katar verlauten, seine Bewegung rechne damit, auch in Zukunft in Gaza die Macht auszuüben. Dass Israel das zulassen werde, ist unwahrscheinlich. Auch in den arabischen Staaten hat die Terrorgruppe seit dem 7. Oktober keinen Rückhalt mehr. Doch ein Plan für eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen existiert dort nicht. Zwar einigten sich die Mitglieder der Arabischen Liga bei einer Sitzung in Bahrain darauf, den Einsatz einer Friedenstruppe zu fordern. Ohne ein vorheriges Bekenntnis Israels zu einer Zweistaatenlösung werden sich die arabischen Staaten aber niemals in Gaza engagieren. Die Netanyahu-Regierung lehnt das ab – sie hat allerdings selbst keinen Plan, was mit dem Gazastreifen in Zukunft geschehen soll. Stattdessen gehen die israelischen Politiker inzwischen in aller Öffentlichkeit aufeinander los. Das Chaos und die Unentschlossenheit auf israelischer Seite nützen der Hamas, die sich dadurch neu positionieren kann.
Für die Zivilisten in Gaza hingegen ist ein Frieden in weite Ferne gerückt. Immerhin ist jetzt nach wochenlanger Bauzeit der schwimmende Hafen an der Küste des Gazastreifens in Betrieb, mit dem die Amerikaner Hilfsgüter für die hungernde Bevölkerung liefern wollen. Viele sind angesichts des dauernden Bombardements und von Zehntausenden Toten aber fatalistisch. Viele rechnen damit, dass die Kämpfe noch bis in den nächsten Winter hinein andauern. „Es ist ein Guerilla-Krieg – und der wird ewig dauern.“
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