Selbst in einem Land, das nie eine vollendete Demokratie war, ist dieser Tag ein Einschnitt. Präsident Erdoğan hat über Jahre immer wieder politische Gegner festnehmen, verhaften und verurteilen lassen, besonders oft kurdische Politiker wie den beliebten Selahattin Demirtaş. In İmamoğlu allerdings sah der Präsident wohl von Anfang an jemanden, der eine breite Mehrheit im Land finden und ihm würde gefährlich werden können.
Es war kein Zufall, dass die Festnahme von Ekrem İmamoğlu einem Staatsstreich glich. Ein massives Aufgebot an Sicherheitskräften, Straßensperren überall, Versammlungsverbote und verrammelte U-Bahn-Stationen. Dazu die Blockade von Netzwerken wie X und Youtube. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan weiß seit Langem, dass Istanbuls beliebter Bürgermeister die größte Gefahr für seinen Allmachtsanspruch darstellt. İmamoğlu schafft es mit seinem Charisma nicht nur, breite Bevölkerungsschichten hinter sich zu vereinen. Er ist zur einer Projektionsfläche für all das geworden, was viele Türken nach mehr als zwei Jahrzehnten Erdoğan-Herrschaft vermissen: eine vernunftgeleitete, glaubwürdige und offene Politik.
İmamoğlu wird von dem Coup gegen ihn nicht überrascht gewesen sein. Erdoğans Machtapparat setzt seit Jahren alle Hebel in Bewegung, um ein direktes Duell zwischen dem alten Langzeitpräsidenten und dem agilen Hoffnungsträger zu verhindern. Wahlen wurden annulliert, Strafermittlungen mit abstrusen Begründungen geführt. Zuletzt erkannte ihm die Istanbuler Universität unter fadenscheinigen Gründen sogar seinen Abschluss ab. Nachdem Erdoğan die kurdische Front mit seinem „Deal“ mit PKK-Chef Abdullah Öcalan (einstweilen) befriedet hatte, war der Opposition klar, dass der Präsident seine Macht nun auf den nächsten Schauplatz konzentrieren und zum Schlag gegen den Widersacher ausholen kann. Dass auch Prominenz in Erdoğans Reich nicht vor der Gefängniszelle schützt, hat das Beispiel des einstigen Hoffnungsträgers Selahattin Demirtaş schon vor Jahren gezeigt.
Die EU kann diesem „Putschversuch“ in einem NATO-Staat, wie es die Opposition nennt, kaum mehr als Appelle entgegensetzen. Der gewiefte Machtpolitiker Erdoğan hat sich in vielen zentralen Konflikten dieser Zeit als ein „Partner“ positioniert, auf den man nur schwer verzichten kann (Flüchtlinge, Syrien, Ukraine et cetera). Ihn mit Strafmaßnahmen zu belegen, würde den Westen vielleicht in der wohligen Sicherheit wiegen, auf der richtigen Seite zu stehen. Doch weiß man in Brüssel nur zu gut, wie wichtig in diesen Zeiten gute Arbeitsbeziehungen nach Ankara sind. Ohnehin könnten Sanktionen die Machtlosigkeit der Europäer in diesem Streit kaum kaschieren. Denn Erdoğan lässt keinen Zweifel daran, wie fest entschlossen er ist, seine Alleinherrschaft mit allen Mitteln zu verteidigen, koste es, was es wolle. Druck von außen hat auch früher kaum etwas bewirkt.
Offenbar glaubt der Präsident, dass er sich diesen Schritt gegen seinen Herausforderer gerade erlauben kann. Angesichts der Trump-Präsidentschaft und des Krieges in der Ukraine sowie der Lage in Syrien gilt er in Europa als wichtiger Partner. Dazu sind die nächsten Wahlen erst für 2028 vorgesehen. Zwar glauben viele, dass der Termin vorverlegt wird. Doch bis dahin, dürfte Erdoğan kalkulieren, wird sich die türkische Gesellschaft an einen inhaftierten İmamoğlu gewöhnt haben. Eben so, wie sie sich damit abfand, dass andere Gegner Erdoğans verhaftet wurden.
Am Ende steht die Einsicht, dass der Machtkampf zwischen Erdoğan und İmamoğlu nur von den Türken selbst entschieden werden kann. So ungleich das Ringen ist: Die türkische Opposition hat auch nach vielen Jahren massiver Repression ihre selbsterneuernde Kraft bewahrt (und beinahe die letzte Wahl gewonnen). Die Ausschaltung İmamoğlus versetzt ihr einen herben Schlag, da er bislang der Einzige war, der es an Charisma und Aura mit dem alten Herrscher aufnehmen konnte. Doch in Wirtschaft und Gesellschaft brodelt es. Die Wut auf Autokratie und Vetternwirtschaft lässt sich nicht hinter Gefängnismauern einsperren. Die letzte Schlacht ist für die türkische Opposition noch nicht geschlagen.