In diesen Tagen, weniger als vier Wochen vor dem entscheidenden Wahlgang, wirkt Präsident Erdogan häufig wie ein Schauspieler in verschiedenen Rollen: er droht, er spottet, er fleht seine Untertanen an. Alles Zeichen dafür, in welcher Stimmung er ist, wie unsicher er geworden ist, wie er versucht, unentschlossene Wähler noch für sich zu gewinnen.
Am 14. Mai wählen die Türken ein neues Parlament und entscheiden über die Zukunft ihres Präsidenten. Seit Erdogans Machtübernahme 2003 musste er noch nie so sehr eine Wahlniederlage fürchten. Trotzdem ist auch die Opposition nervös. Was schon an der Tatsache liegt, dass sie seit 20 Jahren keine landesweite Wahl mehr gewonnen hat. Was wiederum daran liegt, dass Erdogan ein begnadeter Wahlkämpfer ist. Er berührt sein Publikum auf eine Weise, wie es nur wenige Politiker können. Allein seine Sprache und Rhetorik ist eine Kunstform: Er benutzt in seinen Wahlkampfreden die türkische Hochsprache, wenn er das städtische Bildungsbürgertum ansprechen will, kann aber in der gleichen Rede die Sprache der Straße aus dem Ärmel schütteln, wenn er volksnah rüberkommen möchte. 69 Jahre ist er nun alt, er hat es von den Straßen eines Istanbuler Slums zum mächtigsten Türken seit Staatsgründer Atatürk gebracht.
Erdogan hat sich entschieden, seinen Kampf um den Machterhalt auf das Gebiet zu konzentrieren, wo im Februar Zehntausende ihr Leben verloren haben. Ihm ist bewusst, dass die Naturkatastrophe in ihrer politischen Konsequenz auch sein eigener politischer Untergang bedeuten könnte. Die Türkei werde die Beben ebenso überwinden wie frühere Katastrophen, „von den Kreuzzügen bis zu Terroranschlägen. Wir verwandeln die Tränen in ein Versprechen für die Zukunft.“ Die Wahrnehmung des Krisenmanagements wird Einfluss auf die Parlaments- und Präsidentenwahl haben. Laut einer Umfrage von Ipsos, die nicht veröffentlicht wurde, gaben 61 Prozent der Befragten an, sie hätten ihre politische Präferenz nicht geändert. Während 24 Prozent keine Antwort gaben, erklärten indessen 15 Prozent, dass das Beben ihre politischen Präferenzen verändert habe. Es liegt nahe, dass es sich dabei um diejenigen handelt, die mit dem Krisenmanagement der Regierung und des Staats nicht zufrieden sind. Sollte es Erdogan und seiner AKP nicht gelingen, einen Teil dieser Wähler zurückzuholen, droht ihnen bei der Wahl eine Niederlage.
Glaubt er noch an seinen Sieg? Aus seinem engeren Umfeld ist zu hören, dass seine Lage eher pessimistisch eingeschätzt wird, Erdogan hat noch keine Strategie gefunden. Der Staatsapparat ist nicht mehr von der AKP zu unterscheiden, der Sultan kontrolliert das System. Schon dass er an der Wahl teilnehmen darf, zeugt davon: Eigentlich erlaubt die Verfassung nur zwei Amtszeiten. Es sind keine fairen Wahlen, das ist jedem klar. Verfolgt man aktuell die türkischen Nachrichten, könnte man das Land für eine funktionierende Demokratie halten. Da ist die vereinigte Opposition, deren Vertreter miteinander reden, diskutieren, wie der Präsident bei den Wahlen am 14. Mai am besten zu schlagen wäre. Abends laufen Talkshows mit politischen Debatten, überall Meinungen, sehr frei geäußert.
In der Türkei teilen viele den Optimismus nach einer neuen Zeit, ohne Erdogans Nepotismus. Aber es gibt auch Skepsis, man traut ihm alles zu – die einen im Guten, die anderen im Schlechten. Frühere Anhänger aus seinem engsten Zirkel, die ihn mittlerweile verlassen haben, beschreiben Erdogan als einen Mann, der „keine Kritik mehr akzeptiert, nicht mal konstruktive“. Kann die Opposition ihn diesmal besiegen? Sie sagen: „Es geht nicht darum, ob die Opposition gewinnt, sondern ob Erdogan verliert.“ Über 30 Prozent der Wähler identifizieren sich mit Erdogan, er ist ihr Mann. Und eine deutliche Mehrheit wählt rechts der Mitte. Die Anhänger der vereinigten Opposition haben mit diesen Menschen nichts zu tun. Die Türkei ist gespalten.
Und die Opposition? Vereinigt ist sie nur teilweise: Die prokurdische HDP ist nicht Teil des Bündnisses, denn das oppositionelle Konglomerat besteht aus der sozialdemokratischen CHP und der nationalistischen IYI-Partei, die es ablehnt, jemals mit den Kurden an einem Tisch sitzen zu wollen.
Nun verkündeten die beiden Co-Parteichefs der HDP, dass sie bei der Präsidentschaftswahl keinen eigenen Kandidaten nominieren werden. In anderen Worten heißt das, dass sie Kiliçdaroglu unterstützen. Nicht offiziell als Teil des Oppositionsbündnisses. Aber als Mitglied in der inoffiziellen Allianz mit dem Namen: Alle gegen Erdogan. „Wir werden“, hieß es von der HDP, „den Faschismus in der Türkei beenden.“ Man werde „gemeinsam siegen“. Dabei ist noch nicht einmal klar, ob die HDP überhaupt an den Wahlen teilnehmen darf. Sie steckt in einem juristischen Verfahren, in dem es um ihre Existenz geht. Die Staatsanwaltschaft will die HDP verbieten lassen, weil sie der politische Arm der PKK sei. Es könnte also passieren, dass die HDP noch von der politischen Landschaft verschwindet. Verboten von einer Justiz, die schon lange nicht mehr unabhängig ist. Die Kurden haben Erfahrung mit solchen Versuchen, sie mundtot zu machen. Sie verfügen deswegen über eine Zweitpartei, die „Yeşil Sol Parti“, auf deren Liste sie notfalls ins Parlament einziehen wollen. Ganz früher haben das Erdogans Islamisten so gemacht, deren Parteien auch immer verboten worden waren. Und sich nach dem Verbot stets unter neuem Namen neu gründeten.
Parteien kann man verbieten, Wähler nicht. Falls die HDP nicht antreten darf zur Wahl, säße sie zwar nach dem 14. Mai nicht mehr im Parlament, ihre Anhänger dürfen aber trotzdem an der Präsidentschaftswahl teilnehmen, der entscheidenden Wahl angesichts der Machtfülle des Präsidenten.
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