Von Hans-Christian Hetzer, Berlin
Eine Kulturkneipe in der deutschen Hauptstadt: Sie bietet bietet regelmäßig Abendveranstaltungen an, auch kritische Vorträge zum Thema Islamismus und Antisemitismus gehören zum Angebot. In Zeiten, in denen beide Phänomene massiv präsent sind, sollte eine solche Plattform eigentlich Wertschätzung erfahren, doch bringt diese Positionierung offensichtlich einige Zeitgenossen in Rage. Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 kam es immer wieder zu bedrohlichen Situationen. Das Lokal wurde mehrfach mit Palästina-Parolen und roten Dreiecken beschmiert, einem von der islamistischen Hamas entlehnten Symbol für „legitime“ Ziele. Das blieb nicht ohne Folgen, die Betreiber zählten allein im September drei Angriffe und gaben nun bekannt, dass bei der letzten Attacke in der Nacht auf den 27. September versucht worden sei, an der Kneipe im Erdgeschoss eines Wohnhauses Feuer zu legen. Die Dokumentation der nächtlichen Aktion in den sozialen Medien zeigt englischsprachige Huldigungen der Kassam-Brigaden, der für den 7. Oktober maßgeblichen islamistischen Miliz, ein Lob des „Widerstandes“ sowie ein Bekenntnis zur Hamas in arabischer Schrift. Ähnliches lässt sich auch in den Nachbarländern beobachten: Erst diese Woche wurde eine Hausfassade in Wien mit antisemitischen Parolen beschmiert, in der die Österreichisch-Israelische Gesellschaft ihre Büroräume hat.
Hinter diesen Aktivitäten steht eine seltsame Mischung, mitunter sind die Aufrufe von einer „palästinensischen Gemeinde“ unterzeichnet, andere geben sich links und wirken dabei wie ein Reenactment der K-Gruppen aus den Siebzigerjahren. Zugleich finden sich islamische Einflüsse durch Symbole oder die Verkündung von Gebetszeiten auf Protestcamps. Viele der Parolen, die auf den Demonstrationen skandiert oder an Wände gesprüht werden, sind auf Englisch. Ihre Urheber trachten weniger danach, die Nachbarschaft zu agitieren, sondern haben den Tiktok-Globalismus verinnerlicht.
Diese diffuse Konstellation deckt sich mit der historischen Entwicklung, denn dem eigentlichen Antizionismus sind seine Träger längst abhandengekommen. Er war ein mit Elementen des Antisemitismus verwobenes Produkt des Stalinismus und wanderte unter der Fahne des „antiimperialistischen Befreiungskampfes“ in den panarabischen Nationalismus und die Neue Linke ein. Heute spielt sich der Konflikt zwischen Israel und den Islamisten von Hamas und Hisbollah ab, mit deren Hilfe wiederum Iran seine Position in der Region festigen will. Die alten Parolen werden jedoch ebenso fortgeführt wie die Bilder von damals. Während sich Hamas und Hisbollah in ihren Videos stolz als moderne und hochgerüstete Kämpfer präsentieren und jemenitische Islamisten Raketen aus mehr als 2000 Kilometer Entfernung auf Israel feuern, werfen im Agitationsmaterial der Solidaritätsszene immer noch palästinensische Kinder Steine.
Durch Überschneidungen mit anderen Milieus wird die Szenerie noch unübersichtlicher. Bunte Fahnen, die jetzt auf den Nahost-Demonstrationen geschwenkt werden, waren schon auf prorussischen Demonstrationen zu sehen. Da ist es zu den „Querdenkern“ nicht weit. Bereits im vergangenen Jahr wurde in Deutschland und Österreich aus dem Spektrum der „Corona-Kritiker“ für ein „freies Palästina“ demonstriert, in Berlin fanden sich nun Ende September Künstlerinnen und Künstler aus der Szene bei einem Benefizkonzert der „Voices für Gaza“ zusammen. Der Demokratische Widerstand, das Zentralorgan der Impfgegner, schreibt von „Konzentrationslagern“ und einem israelischen „Expansionskrieg“ und sieht im 7. Oktober lediglich „Angriffe palästinensischer Widerstandskämpfer“. Nach der von der WHO mit viel Aufwand im Gazastreifen ausgehandelten Polio-Impfkampagne prangert das Blatt nun ernsthaft an, die Bevölkerung sei damit „durchgeimpft“ worden. In diesem Krieg kann eben jede Agenda untergebracht werden.
Nur die äußerste Rechte, obwohl eng mit dem Impfgegner-Milieu verbunden, hält sich auffallend zurück. Der Blick in ihre Publikationen und Debatten zeigt zwar, dass sich ihr Weltbild in weiten Teilen kaum von dem der Demonstranten unterscheidet, aber sie wissen, wann sie Zurückhaltung üben müssen. In der geopolitischen Orientierung neigt der Großteil gerade des extrem rechten Spektrums selbst der neuen „Achse des Widerstands“ zu. Die Bewunderung diverser Rechtsextremen für Moskau und Peking ist notorisch, doch nicht wenige blicken auch nach Teheran und Damaskus.
Solange die USA nicht auf einen isolationistischen Kurs umschwenken, gilt die Hauptsorge noch immer den „raumfremden“ Einflüssen der „Atlantiker“. Ein Teil bewundert Israel für seinen kompromisslosen Kurs, die steigende Macht ultrarechter Kreise und sieht in ihnen einen Verbündeten im Kampf gegen den als expansiv wahrgenommenen Islam. Doch nicht wenige sehen in dem Land ganz nach Muster des klassischen Antisemitismus hauptsächlich das destruktive Wirken machthungriger Globalisten. In neurechten Medien ist zu lesen, Israel terrorisiere seine Nachbarn und lenke Flüchtlingsströme gezielt nach Europa, um die abendländische Kultur zu zerstören. Manches, was Islamisten und Antiimperialisten zur Shoah zum Besten geben, deckt sich mit ihren Ansichten. Aber im Gegensatz zu ihnen werden gewisse Inhalte unter Rechten lieber intern diskutiert. Je deutlicher der muslimische Antisemitismus, der sich immer unverhohlener Bahn bricht, angeprangert werden kann, umso mehr kann der eigene aus dem Blickfeld rücken.
Der extremen Rechten spielt damit die Entwicklung in die Hände. Sie wissen, dass jeder der wütenden Aufmärsche, jeder physische Angriff und jede antisemitische Parole aus dem Spektrum von Muslimen und Linken mehr wahrgenommen wird als eine Parlamentskrise in Thüringen. Haben sie es nicht immer gesagt, dass die multikulturelle Gesellschaft im Chaos enden wird? Warnen sie nicht seit Jahren, inspiriert von französischen Debatten, vom „Islamo-Gauchisme“, vor einem Bündnis der Linken mit den Islamisten? Diese Botschaft ist jetzt wichtiger als ihr eigener Blick auf den Nahostkonflikt, da spielt ihre eigene Nähe zu deren Positionen gegen Israel kaum eine Rolle. Die Situation ist äußerst bequem, sie müssen nur abwarten, ihre Agenda erfüllt sich ganz von selbst.