Vor dem Jahreswechsel hat die EU einen neuen Bericht des immer noch hypothetischen Beitrittskandidaten Türkei veröffentlicht. Laut diesem stimmt die türkische Außenpolitik nur zu zehn Prozent mit der Ausrichtung Brüssels überein. Im „absoluten Widerspruch“ zur EU stehe die türkische Unterstützung der Hamas. Diesen Punkt hob die türkische Regierung in ihrer Reaktion auf den 141 Seiten langen Bericht besonders hervor. Man empfinde es als „Lob“, dass die EU „die prinzipienfeste Haltung der Türkei in Bezug auf den Krieg zwischen Hamas und Israel“ kritisiere. „Angesichts des Massakers, das an die düstere Zeit des Mittelalters erinnert, steht die EU auf der falschen Seite der Geschichte“, verkündete das Außenministerium in Ankara.
Bereits vor der neuerlichen Konflikt in Nahost waren die Beziehungen zwischen Brüssel und der Türkei nicht gut. Aber es gab zaghafte Zeichen der Annäherung. Noch am 4. Oktober schrieb die international renommierte „International Crisis Group“, es bestehe „eine Chance für eine dauerhafte Verbesserung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU“. Eigentlich hegt Erdoğan den Anspruch, eine führende Rolle in der muslimischen Welt zu spielen. Doch im Ringen um humanitäre Zugänge nach Gaza, um die Befreiung der Geiseln und in der Diskussion über eine längerfristige Befriedung der Region spielt Ankara bisher nur eine Nebenrolle. Erdoğans Vorschlag, sein Land könne als Garantiemacht für Palästina bei Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung auftreten, hat bisher kaum jemand aufgegriffen.
Als US-Außenminister Blinken nach dem Massaker der Hamas erstmals in die Region reiste, machte er einen Bogen um die Türkei. Das Land fehlte wieder auf der Liste, als das State Department später eine weitere Reise des Ministers ankündigte. Zwar legte Blinken dann doch einen kurzen Stopp in Ankara ein, doch die Verstimmung war unübersehbar. Türkischen Berichten zufolge erwartete Washington, dass Erdoğan Blinken empfange. Das sei in Ankara mit dem Verweis abgelehnt worden, Außenminister Hakan Fidan sei Blinkens Pendant. Dabei hatte Erdoğan kurz zuvor noch den iranischen Außenminister empfangen und sich von ihm für seine Hamas-Unterstützung loben lassen. Während des Blinken-Besuchs weilte er demonstrativ in Rize am Schwarzen Meer. Offenbar wollte er so seinen Groll darüber ausdrücken, dass US-Präsident Joe Biden ihn in seiner Telefon-Diplomatie ausgespart hat.
Von der türkischen Opposition werden Erdoğans Hamas-Äußerungen als strategischer Fehler kritisiert. „Das hat der türkischen Außenpolitik stark geschadet. Die Türkei ist gegenwärtig außenpolitisch, gerade wenn es um Fragen des Nahen Ostens geht, so isoliert wie seit Jahrzehnten nicht mehr“, sagte ein Vertreter der Partei Deva, die sich von der AKP abgespalten hatte. Das Land habe so die Möglichkeit verspielt, als Vermittler die Lage für die Palästinenser zu verbessern. Die Vorsitzende der rechtskonservativen Iyi-Partei sagte, Erdoğan solle „sich verhalten wie ein Präsident, nicht wie der Sprecher der Hamas“. Damit spiele er nur dem „Terrorismus“ des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in die Hände.
Im türkischen Parlament gibt es allerdings eine seltene Einigkeit, was die Kritik an Israel betrifft. Fast alle Parteien sprechen von israelischen „Kriegsverbrechen“ und einem „Genozid in Gaza“. Einhellig ist auch die Verurteilung der USA für ihre Unterstützung Israels. Das gilt ebenso für die in allen anderen Fragen gespaltene Öffentlichkeit. Allenthalben werden Boykottaufrufe gegen Israel immer lauter.Nicht nur das türkische Parlament verbannte US- und israelische Produkte aus dem Sortiment der dortigen Kantine, ebenso fordern Universitäten und die türkische Bahn Sanktionen. Laut dem türkischen Handelsminister ist der Handel mit Israel seit dem 7. Oktober angeblich um 50 Prozent zurückgegangen, weil Händler und Konsumenten Produkte von dort boykottierten. Der türkische Energieminister teilte mit, alle Gespräche über Energieprojekte mit Israel seien eingestellt worden.
Alle Brücken will Erdoğan allerdings nicht einreißen, schon um auf dem diplomatischen Parkett weiter eine Rolle zu spielen. In der gleichen Rede, in der er jegliche weitere Kommunikation mit Ministerpräsident Netanjahu ablehnte, gab er bekannt, dass der türkische Geheimdienstchef mit Israel im Gespräch sei, um auf ein Ende des Krieges hinzuwirken.
Iran scheint derweil entschlossen, Erdoğans Glaubwürdigkeit als Unterstützer der Hamas zu untergraben. In Regimemedien erschienen Karikaturen und Videos, in denen Erdoğan der Heuchelei bezichtigt wird, weil von türkischen Häfen aus weiterhin Treibstoff an Israel geliefert werde. Zudem gab es Aufrufe zu Demonstrationen vor der türkischen Botschaft in Teheran.
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