Von Yussuf Abdel Hadi, Hamburg
Der amerikanische Orientalist Bernard Lewis identifizierte 1993 ein bemerkenswertes Paradox: Unter allen nichtwestlichen Zivilisationen schien der Islam die vielversprechendsten Voraussetzungen für eine demokratische Entwicklung zu besitzen. Aufgrund seines gemeinsamen jüdisch-christlichen und griechisch-römischen Erbes war der Islam dem Westen kulturell näher als jede andere Zivilisation. Doch die politische Realität zeichnet ein völlig anderes Bild – geprägt von autoritären Regimen und einem Mangel an demokratischen Strukturen. Der Widerspruch zwischen diesem Potenzial und der tatsächlichen Entwicklung liegt in theologischen und politischen Gegensätzen begründet. Im Zentrum steht der Konflikt zwischen zwei Souveränitätsvorstellungen: der demokratischen Volkssouveränität und der göttlichen Souveränität, auch hakimiya genannt.
Während in einer Demokratie das Volk die höchste Instanz der Legitimität darstellt, betonen viele islamisch geprägte Gesellschaften die absolute Souveränität Gottes. Doch wenn allein Gott als legitimer Souverän gilt, wie können dann Menschen Gesetze erlassen, die möglicherweise von der Scharia abweichen? Noch schwieriger wird es bei der Frage nach individuellen Rechten und Freiheiten, wo ein grundlegender philosophischer Gegensatz deutlich wird. Die liberale Demokratie, stark beeinflusst durch das Erbe der Aufklärung, basiert auf den Prinzipien der Autonomie und der unveräußerlichen Rechte des Einzelnen, die als inhärent und universell gelten. Im Gegensatz dazu erkennt die fundamentalistische islamische Tradition zwar Rechte und Pflichten an, leitet diese jedoch aus göttlichem Gesetz ab. Sie sind nicht „natürlich“ oder „unveräußerlich“, sondern werden von Gott gewährt und sind an religiöse Vorgaben gebunden.
Es wird sich erst zeigen müssen, wie die politische Entwicklung in Syrien nach Assads Sturz verläuft. Erfahrungsgemäß sehen viele islamische Bewegungen die Demokratie bestenfalls als taktisches Instrument zur Machtergreifung, nicht aber als ein System, das im rationalen Diskurs durch „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) erst feststellt, was als richtig oder falsch gelten soll. Exemplarisch zeigt sich diese Problematik bei Yusuf al-Qaradawi, einem der Vordenker der Muslimbruderschaft und immer noch viel zitierten islamischen Rechtsgelehrten. Sein Versuch, islamische Regierungsführung mit demokratischen Prinzipien zu versöhnen, scheitert an einem fundamentalen Widerspruch: Indem er fordert, dass alle Gesetze mit der Scharia vereinbar sein müssen und nicht gewählte religiöse Gelehrte als letzte Autorität über demokratische Entscheidungen wachen sollen, höhlt er den Kern der Demokratie von innen aus. Seine Betonung der göttlichen Souveränität als ultimativer Quelle der Legitimität schafft faktisch ein Vetorecht religiöser Autoritäten über den Volkswillen.
Für die islamische Welt wiegt die Problematik besonders schwer: Während westliche Demokratien zumindest über verfassungsrechtliche Sicherungen und etablierte liberale Institutionen verfügen, fehlen in den meisten muslimischen Ländern grundlegende Schutzmechanismen. Zudem steht eine schwache liberale Zivilgesellschaft einer dominanten, nicht selten den öffentlichen Diskurs prägenden islamistischen Bewegung gegenüber. Dabei sind die Hindernisse für demokratische Entwicklungen nicht allein religiöser Natur. In zahlreichen Ländern wirken traditionelle Stammesstrukturen als zusätzliche Barrieren. Wie sehr die arabischen Staaten Klassengesellschaften darstellen, wird an den autokratisch regierten Golfstaaten besonders deutlich. Diese Herausforderungen werden, wie manche Beobachter argumentieren, noch verschärft durch die historische Erfahrung vieler muslimischer Gesellschaften mit dem westlichen Kolonialismus. Liberale Demokratie wird oft als westliches koloniales Konzept wahrgenommen.
Eine Negierung des „fremden“ Gedankenguts durch Dämonisierung ist bis heute eine gängige Taktik: Ob Demokratie, Liberalismus oder Säkularismus – dem Volk werden sie als koloniale zerstörerische Kräfte dargestellt, die Glaube, Familie und Gemeinschaft bedrohen. Die Ablehnung demokratischer Werte als kolonialistisch erweist sich bei näherer Betrachtung als Scheinargument. Dies auch angesichts der Tatsache, dass die islamische Welt zahlreiche andere westliche Errungenschaften ohne grundsätzliche Vorbehalte übernommen hat – wie das moderne Schulwesen, das Gesundheitssystem, den Städtebau oder die Wirtschaft.
Darüber hinaus werden postmoderne westliche Theorien, die selbst erst im Kontext einer aufgeklärten und selbstkritischen Diskurskultur entstanden sind, von modernitätsfeindlichen islamistischen Akteuren gern selektiv importiert und instrumentalisiert. Diese Theoreme dienen dann dazu, die eigene Ablehnung von liberaler Demokratie und Menschenrechten als Befreiung von „epistemischer Gewalt“ oder „kolonialen Relikten“ zu legitimieren. Es ist wichtig, zu sehen, dass die Abwehr fremden Denkens keineswegs immer typisch für den Islam war. Dessen goldenes Zeitalter wäre ohne die intensive Auseinandersetzung mit griechischen, persischen und indischen Denkern undenkbar gewesen. Die Werke der islamischen Rechtswissenschaft sind ohne diesen Bezug kaum zu denken.
Trotz vielversprechenden historischen Voraussetzungen erweist sich die Etablierung stabiler demokratischer Systeme in der islamischen Welt als ausserordentlich schwierig. Welche Optionen hat also die islamische Welt? Drei Entwicklungspfade kristallisieren sich heraus: Zum einen besteht die Möglichkeit einer islamischen illiberalen Demokratie, in der das Volk zwar seine Führung wählen und abwählen kann, diese aber strikt an das göttliche Gesetz gebunden bleibt. Eine zweite Option sind undemokratische, nationalistische Regime – ob in säkularer, religiöser oder hybrider Form. Man denke an die Baathisten oder an die Kemalisten. Solche Systeme vermögen zwar eine gewisse Religionsfreiheit zu garantieren, definieren aber die Zugehörigkeit zur Nation oft ethnisch exklusiv. Sie managen das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Moderne durch autoritäre Kontrolle, ohne echte demokratische Partizipation zuzulassen. Die dritte Möglichkeit verkörpern liberal-demokratische Kräfte, wie sie sich vor allem in Tunesien und Teilen der türkischen Zivilgesellschaft entwickelt haben. Auch in Marokko gibt es, trotz der dominanten Rolle des Königs, eine wachsende säkulare Bewegung, die erfolgreich für Reformen eintritt. Für sie ist Volkssouveränität zwar wichtig, aber nicht absolut – sie muss durch verfassungsrechtliche Garantien individueller Rechte begrenzt werden.
Der Arabische Frühling hat diese Schwäche dramatisch offengelegt. In Syrien führte der Aufstand gegen die Assad-Diktatur nicht zu Demokratie, sondern zu einem verheerenden Bürgerkrieg, aus dem nun ausgerechnet Figuren mit radikalislamistischer Vergangenheit wie Ahmed al-Sharaa als vermeintlich gemässigte „Partner aus Not“ für den Westen hervorgehen. Es ist ein bekanntes Muster: Wie schon in Afghanistan werden religiöse Extremisten zu Freiheitskämpfern umgedeutet.
Ist damit das Schicksal der Demokratie in der islamischen Welt besiegelt? Die Zukunft nicht nur in Syrien, sondern in vielen Ländern der Region bleibt ungewiss. Wer dennoch Hoffnung schöpft, tut dies in dem Glauben, dass die Geschichte einer teleologischen Logik folgt und die freiheitliche Synthese von Diktatur und Islamismus näher liegt, als die Gegenwart vermuten lässt.