Die Ankunft des usbekischen Präsidenten Shawkat Mirziyoyew wird auf Samarkands Registan-Platz mit seinen drei Medressen, der einst ein Zentrum für Gelehrsamkeit und Spiritualität, später ein Marktplatz war und heute als Top-Sehenswürdigkeit jeder Usbekistan-Reise gilt, wird mit heftigem Applaus quittiert. Auf den grossen Bildschirmen auf beiden Seiten des Platzes sind gleichzeitig patriotische Aufnahmen zu sehen: die imposanten Bauprojekte Taschkents, prachtvolle Bauwerke der Timuriden-Dynastie, dazwischen die Bilder von Staatsbesuchen politischer Würdenträger, unter ihnen auch Wladimir Putin. In Usbekistan ist Russland kein Tabu, im Gegenteil. Russisch hört man ohnehin fast überall. Und der russische Botschafter zählt genauso zu den Ehrengästen des Festivals wie Botschafter aus Europa. Grund ist das Musikfestival Sharq Taronalari (Melodien des Orients). Es findet seit 1997 alle zwei Jahre statt, über 25 Länder präsentieren ihre folkloristische Musik und ihre Tänze präsentieren.
Die Ansprache des Präsidenten erfolgt auf Usbekisch, Übersetzungshilfen stehen dabei nur einem ausgewählten Kreis von Diplomaten und hochrangigen Gästen in den vorderen Reihen zur Verfügung. Es geht dabei um den Hinweis des Präsidenten, dass das Festival das „humanistische Wesen des Islams“ zeige. Der Begriff scheint heute die Essenz vom Verhältnis Usbekistans zur Religion einzufangen. Das Land mit seiner reichen und wechselvollen Geschichte trägt die Spuren vieler Epochen und Glaubensrichtungen. Der Zoroastrismus hat hier ebenso seine Spuren hinterlassen wie der Islam, der seit dem 8. Jahrhundert das Land prägt. Aber auch Juden und Christen fanden in den usbekischen Gefilden ihre Heimat. Die Sowjetzeit mit ihrem offiziell verordneten Atheismus fügte eine weitere Schicht hinzu. Und nun, in den jungen 33 Jahren der Unabhängigkeit, sucht eine neue Generation von Usbeken ihre Identität zwischen Tradition und Moderne.
Unter der Herrschaft von Islam Karimow (1938–2016), dem langjährigen Präsidenten Usbekistans, befand sich der Islam fest in staatlicher Hand. Der muslimische Gebetsruf Adhan und das Tragen des Hijabs in der Öffentlichkeit waren verboten. Nach Karimows Tod wurden im Zuge einer vorsichtigen Öffnung des Landes auch Religionsreformen eingeleitet. Die Liberalisierung, obwohl vorsichtig dosiert, hatte jedoch unbeabsichtigte Folgen. Während der Staat versuchte, eine „säkulare“ Interpretation des Islams zu fördern, nutzen illiberale islamische Strömungen die neu gewonnene Freiheit der Medien, um ihr konservatives Verständnis des Islams zu verbreiten. So predigen Imame auf sozialen Plattformen nun etwa die Vorzüge eines konservativen Erscheinungsbilds für Frauen und preisen das Verhüllungsgebot.
Vor Jahren noch waren kaum Frauen auf den Strassen Zentralasiens zu sehen, die sich ihre Haare bedeckten. Heute aber gehört der Hijab zum Strassenbild. Ein Grund dafür: Aufgeklärte Usbeken haben zwar Verständnis für Islam Karimows Politik gehabt, aber bemängelten, dass er – im Gegensatz zu Kemal Atatürk, dem Begründer der Republik Türkei – nicht genug in Bildung und Aufklärung investiert habe. Um gegen illiberale islamische Strömungen vorzugehen, hat das usbekische Komitee für religiöse Angelegenheiten eine Liste von Materialien, Texten und Foren veröffentlicht, die als extremistisch und terroristisch eingestuft wurden und in Usbekistan verboten sind. Dazu gehören Telegram- und Youtube-Kanäle, Facebook, Instagram und Tiktok sowie religiöse Websites, Bücher und Lieder, sogenannte Nasheeds. Bemerkenswert ist, dass auf dieser Liste zahlreiche Kanäle und Plattformen figurieren, die von westlichen Behörden kaum beanstandet werden. Jüngstes Beispiel sind jihadistische Nasheeds, die sich der Attentäter von Solingen im Asylheim anhören konnte.
Nicht nur muslimische Besucher aus anderen Ländern kritisieren den ambivalenten Umgang Usbekistans mit dem Islam, sondern auch Menschenrechtsorganisationen. Laut Human Rights Watch wird die Religionsfreiheit von der usbekischen Regierung weiterhin eingeschränkt, die Behörden schätzten selbst gemässigte Formen von Religiosität als „Extremismus“ ein. Die Kritik stösst bei vielen Usbeken auf Unverständnis. „Wir sind nicht gegen den Islam, sondern gegen den fundamentalistischen Islam“, sagen sie. Es ist immer einfacher, aus der Distanz zu kritisieren. Gerade den Frauen geht es vor allem um die Frauenrechte in Usbekistan.
Usbekische Feministinnen blicken mit Sorge nach Afghanistan. Als das Taliban-Regime dort im August 2021 erneut an die Macht kam, gab es vereinzelte Jubelszenen in der usbekischen Grenzregion zu Afghanistan – die Beteiligten wurden umgehend verhaftet. Für aufgeklärte usbekische Frauen ist Afghanistan tatsächlich eine schmerzhafte Erinnerung an ihren eigenen Kampf. In den 1920er Jahren initiierte die sowjetische Regierung die Hujum-Kampagne, eine umfassende Bewegung zur Emanzipation der Frauen in Zentralasien. „Hujum“ bedeutet „Angriff“ auf Usbekisch. Die Kampagne zielte darauf ab, Verschleierung, Kinderehen und die Benachteiligung von Frauen in Sachen Bildung zu bekämpfen. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Kampf gegen die Paranja, den traditionellen Ganzkörperschleier der Frau. Trotz offizieller sowjetischer Unterstützung war es ein langwieriger und gefährlicher Kampf. Frauen, die sich der Hujum-Bewegung anschlossen und öffentlich ihre Paranjas ablegten, wurden oft Ziel von Angriffen durch konservative Muslime. Viele bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben. Die zunehmende Sichtbarkeit des Hijabs im öffentlichen Raum wird von vielen Usbekinnen mit gemischten Gefühlen betrachtet. Einerseits sehen sie darin ein Zeichen religiöser Freiheit, andererseits fürchten sie einen schleichenden Konservatismus.
Die religiöse Landschaft Usbekistans besteht jedoch nicht nur aus dem Islam, sie ist vielfältiger. Etwa 270 Kilometer westlich von Samarkand steht inmitten der verwinkelten Gassen Bucharas eine der ältesten Synagogen des Landes. Einst war Buchara Heimat von mehr als 20.000 Juden. Heute sind es nur noch etwa 200. Viele Juden sind bereits zur Zeit der Sowjetunion ausgewandert, hauptsächlich aufgrund der antireligiösen Politik des sozialistischen Regimes.
Die Neuerungen in der Religions- und insbesondere in der Islampolitik des postsowjetischen Landes mögen westliche Beobachter zwar ganz besonders interessieren – insbesondere auch angesichts der Entwicklungen im benachbarten Afghanistan. Doch Usbekistan hat in den letzten Jahren auch viele andere Reformen erlebt. Das gilt etwa für die Wirtschaftsreformen, die Usbekistan seit 2017 durchführt; es geht um die Öffnung der usbekischen Märkte für internationale Investoren. Die Umsetzung verläuft allerdings harzig, sie wird durch Korruption und Bürokratie gebremst. Das Risiko von Rückschlägen wird durch die anhaltende Dominanz des Staates in der Wirtschaft ebenso erhöht wie durch die starke Abhängigkeit von Rohstoffexporten.
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