Die 25.000-Einwohner-Kommune Heppenheim in Deutschland steht seit dem 31. Mai im Fokus einer neuen Debatte im Land, wie man mit islamistisch motivierten Terroristen umgehen soll. Es war ein 25-jähriger Afghanen, der an diesem Tag im benachbarten Mannheim mit einem Messer den Anti-Islam-Aktivisten Michael Stürzenberger angriff und insgesamt sechs Menschen verletzte. Einer davon, ein Polizist, starb zwei Tage später an den Folgen. Seitdem fragen sich viele, was das für ein Mensch war, und – da die Behörden von einem islamistischen Einzeltäter ausgehen – warum die Radikalisierung keinem aufgefallen war. Den Nachbarn nicht, und auch nicht den Sicherheitsbehörden.
In einem Hochhaus im Heppenheimer Westen lebte der Mann mit Frau und zwei Kleinkindern. Und obwohl er eine Fußmatte mit dem Aufdruck „Welcome“ vor der Wohnungstür liegen hatte, konnte man dort wunderbar anonym leben. Wer Gesellschaft sucht, tut dies nicht in den grauen Fluren des Wohnblocks, sondern an einem kleinen Kiosk unten auf der Straße. In der Theorie wissen natürlich auch die Sicherheitsbehörden, dass es potenzielle radikalislamische Attentäter gibt, sie können sogar mit offiziellen Zahlen aufwarten. Vorletzten Monat zählte die deutsche Kriminalstatistik insgesamt 480 islamistische Gefährder, also Menschen, denen die Polizei zutraut, jederzeit einen Anschlag zu begehen. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion hervor. Der Islamist Sulaiman A. war nicht dabei.
Denn wenn jemand sich bis zur Tat nichts zuschulden kommen lässt und also weder der Polizei noch dem Verfassungsschutz auffällt, wird es eben schwierig. Die Akte von Sulaiman A. beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge liest sich unverdächtig: seit 2013 in Deutschland, seit 2019 mit einer deutschen Staatsbürgerin verheiratet, Vater zweier deutscher Kinder, und deshalb auch trotz eines zunächst abgelehnten Asylantrags mit gültigem Aufenthaltstitel, aktuell bis 2026. Er soll Kampfsportler gewesen sein, sich auch mal in der Flüchtlingshilfe engagiert haben. Sulaiman A. galt bei den Behörden als „gut integriert“, heißt es aus Sicherheitskreisen.  Baden-Württembergs Innenminister, Mannheim liegt in diesem Bundesland, hat gesagt, dass es sich wohl um einen islamistisch radikalisierten Einzeltäter handele. Gerade diese Leute seien besonders gefährlich. Denn sie griffen, einerseits, oft zu leicht verfügbaren Waffen wie Messern oder Fahrzeugen. Und sie seien, andererseits, schwer zu greifen. „Wo keine Kommunikation stattfindet, kann man auch keine Kommunikation überwachen.“
Jedoch gilt auch der Satz „Praktisch niemand radikalisiert sich ganz allein und isoliert.“ Tatsächlich sollen die Ermittler bis jetzt keine verdächtigen Chats auf A.s Smartphone gefunden haben, die vor der Tat hätten auffallen können. Was nicht heißt, dass es definitiv keine gab – er soll vor dem Attentat Daten von seinem Handy gelöscht haben. Allerdings sollen die Ermittler nach Informationen der Süddeutschen Zeitung aus Sicherheitskreisen Hinweise darauf haben, dass Sulaiman A. oder jemand aus seinem persönlichen Umfeld möglicherweise Geld an islamistische Kreise geschickt hat, es soll sich um Kleinspenden handeln. „Einzeltäter ist ein islamistischer Terrorist nur bei der Tat selbst“, sagt ein Experte des Thinktanks Counter Extremism Project (CEP). „Praktisch niemand radikalisiert sich ganz allein und isoliert“. Da sei immer auch ein soziales Umfeld, das irgendetwas mitbekommen dürfte, da seien Propagandaforen, in denen sich Islamisten austauschen, und in den allermeisten Fällen eben auch Chatgruppen mit Gleichgesinnten.
Früher gab es allerdings mehr physische Treffpunkte, an denen Islamisten zusammenkamen, Szenemoscheen vor allem. Für Observationsteams keine unlösbare Aufgabe, diejenigen im Blick zu behalten, die sich da trafen. Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, entwischte ihnen trotzdem, aber sie hatten ihn im Visier. Dies ist inzwischen wesentlich schwieriger. „Social Media sind die neuen Hinterhofmoscheen.“ Fachleute aus Forschung und Behörden berichten, dass die allermeisten Islamisten sich mittlerweile viel stärker noch als vor ein paar Jahren über Telegram-Foren oder andere Chatgruppen radikalisieren.
Einige Verfassungsschutzämter haben in den vergangenen paar Jahren Spezialeinheiten aufgebaut, die gezielt solche islamistischen Internetforen in den Blick nehmen. Sie setzen auch „virtuelle Agenten“ ein, die sich unter falscher Identität in die Gruppen einschleusen. Trotzdem bleibt vieles unentdeckt, allein schon wegen der schieren Menge der Foren und Gruppen. Und so weitreichend wie zum Beispiel das FBI dürfen deutsche Sicherheitsbehörden das Netz und vor allem private Chats nicht überwachen. Die Deutschen sind immer wieder darauf angewiesen, dass ihre ausländischen Partnerbehörden, allen voran die US-amerikanischen, sie auf verdächtige Chats hinweisen. Im Mannheimer Fall hat es offenbar allerdings nicht mal vom FBI einen Tipp gegeben.
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