Die Proteste nach dem Tod von Mahsa Amini haben das iranische Regime nachhaltig geschwächt, auch wenn die Berichterstattung in Europa mittlerweile wieder still geworden ist. Im Iran wenden sich selbst frühere Unterstützer vom islamistischen Regime ab, viele Frauen wagen sich ohne Verschleierung auf die Straße.
Nach den „Frau, Leben, Freiheit“-Protesten vor einem Jahr hatte es zunächst den Anschein, als ob die Mullahs in Teheran dem Zorn der Bevölkerung nachgeben würden. Nun aber scheint der Eindruck nicht ganz falsch zu sein, dass die Führung nur gewartet hat, dass das Thema ein wenig in der medialen Öffentlichkeit verschwinden würde. Denn es verschärft die Repression massiv. Präsident Ebrahim Raisi will den Kopftuchzwang sogar mit Künstlicher Intelligenz überwachen.
Studentinnen tanzen um ein Feuer und verbrennen ihre Kopftücher. „Frau, Leben, Freiheit!“ – beinahe ein Jahr ist es her, dass der Ruf dieser weiblichen Revolution in den Straßen Irans geboren wurde. Um Aufstände wie internationale Kritik zu beschwichtigen, hatte Irans Hardliner-Präsident Ebrahim Raisi die Auflösung der berüchtigten „Sittenpolizei“ verkündet. Doch seit einigen Wochen, so berichten Einwohner Teherans, kontrollierten die Trupps wieder an zentralen Plätzen und hielten Frauen an, die den Kopftuch-Zwang nicht befolgen. Und nun sollen die islamischen „Sitten“ noch strenger gehandhabt werden. Das „Gesetz über das Kopftuch und die Keuschheit“ droht Frauen, die ohne Hidschab das Haus verlassen, oder Männern, die kurze Hosen tragen, mit hohen Geldstrafen, Berufsverboten oder bis zu 15 Jahren Haft. Außerdem will das Regime künstliche Intelligenz einsetzen, um Verstöße im öffentlichen Raum zu ahnden. „Die Verbreitung des Ablegens des Hidschabs wird definitiv unterbunden werden“, warnt Präsident Raisi.
Ein Motor für die erneute Radikalisierung des theokratischen und patriarchalen Systems der Mullah-Herrschaft ist sicherlich der Faktor Angst: Ende nächster Woche jährt sich der Todestag von Jina Mahsa Amini, jener Frau, deren Tod die Proteste im ganzen Land ausgelöst hatte. Bei einem Besuch in Teheran war die 22-jährige Kurdin von der Sittenpolizei festgenommen und in ein „Umerziehungszentrum“ gebracht worden, weil ihr Kopftuch angeblich „zu locker“ saß. Im Polizeigewahrsam wurde sie offenbar so heftig misshandelt, dass sie starb. Ein Foto von Amini, das sie bewusstlos in einem Krankenhausbett zeigt, mit Schläuchen in Mund und Nase, Blut an ihrem Ohr und blauen Flecken um ihre Augen, entfachte den Aufruhr, der bald zur Existenzbedrohung für das Regime wurde. Mit äußerster Brutalität ließ es friedliche Demonstrationen niederschlagen, Tausende verhaften, foltern und ermorden, darunter Minderjährige. Offenbar fürchtet sich Irans Regierung vor einem Wiederaufleben der Proteste. „Der Feind rüstet sich für diesen Jahrestag“, sagte Hossein Salami, der oberste Kommandant der Revolutionsgarden unlängst. Und er drohte: „Wir stehen auch diesmal Gewehr bei Fuß.“ Schon jetzt nehmen Regimekräfte reihenweise Aktivisten und Angehörige von getöteten Demonstranten fest, um mögliche Demonstrationen bereits im Vorfeld zu ersticken.
Selbst für Menschen, die jahrzehntelang das Mullah-Regime unterstützten, ist der Tod von Jina gleichbedeutend mit einer Zäsur, in ihrer eigenen Biografie, aber auch für die Identität mit der Diktatur. „Ich bin nicht mehr die gleiche Person wie vor einem Jahr“, sagt eine Frau, die seit ihrer Kindheit selbst sehr religiös gewesen ist. „Aber jetzt sagt mein Verstand, dass ich alles ablehnen muss, was von denen kommt.“ Mit „denen“ meint sie die iranische Führung, die für sich in Anspruch nimmt, im Auftrag Gottes zu handeln. „Ich spüre Zweifel in mir“, sagt die Frau. „Ich frage mich, ob es Gerechtigkeit gibt, ob Gott wirklich existiert.“ Alle, die sie kenne, würden nun mit dem Glauben hadern, sagt sie. „Wir sprechen hier über junge Leute, die keine hohen Erwartungen hatten. Alles was sie wollten, war Freiheit. Was für ein Verbrechen haben die jungen Menschen begangen, die vom Staat hingerichtet wurden für ihre Proteste?“
Es gab mehr als 22.000 Festnahmen, mehr als 500 Menschen wurden getötet und die Internetzensur massiv verschärft. Doch die Führung erweist sich als unfähig, die Erosion ihres religiös begründeten Machtanspruchs zu stoppen und dem zivilen Ungehorsam vieler Frauen zu begegnen. Überall im Land gehen nun Frauen ohne Kopftuch auf die Straße – und werden dabei, was noch wichtiger ist, von signifikanten Teilen der Bevölkerung unterstützt.
„Das ist eine Errungenschaft, die vor Mahsas Tod niemand für möglich gehalten hätte“, sagt eine Teheraner Journalistin. Die Reaktion des Machtapparats auf die Proteste habe „das letzte Quäntchen Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des Systems beseitigt“. Selbst jene, denen es vor allem um die Lösung wirtschaftlicher Probleme gehe, hätten verstanden, dass sie von diesen Machteliten nichts mehr zu erwarten hätten. „Das System ist geschwächt. Es hat jegliche Legitimität verloren“, sagt sie.
Laut Menschenrechts-Oraganisationen wurden die Familien von 33 Menschen, die während der Proteste getötet wurden, und die Familien von zwei Menschen, die im Zusammenhang mit den Protesten hingerichtet wurden, massiv schikaniert und eingeschüchtert. Eine unabhängige Frauenrechtsgruppe schreibt in sozialen Medien von mindestens zwölf festgenommenen Frauenrechtsaktivisten. Regimenahe Medien hingegen behaupten, diese seien wegen „Vorbereitung von Unruhen und Unsicherheit“ verhaftet worden.
Diese Methoden, zusammen mit der neuen Gesetzgebung, sollen die Bevölkerung einschüchtern. Denn die geht zwar nicht mehr demonstrieren, aber mit großer Zivilcourage aus dem Haus. Nach einer Erhebung des Regimes tragen inzwischen rund 40 Prozent der Iranerinnen kein Kopftuch mehr. Vor allem in Metropolen ist die alltägliche Auflehnung zu beobachten. Videoaufnahmen in sozialen Medien zeigen, wie Passanten Sittenwächter vertreiben, die eine Frau mit offenen Haaren mitnehmen wollen.
Das neue Kopftuch-Gesetz nutzt besonders besonders perfide Taktiken: Zum einen liegen Geldstrafen von rund 950 Euro über so manchem Monatsgehalt und bedrohen damit die wirtschaftliche Existenz, und es fordert zur Denunziation auf. Cafés, Kinos, Einkaufszentren, überhaupt jedem Arbeitgeber droht die Schließung, wenn er Frauen ohne Kopftuch nicht meldet. Jeder Einzelne soll so zum Aufseher gemacht werden. Das neue Gesetz betrachten die Frauen im Iran als stumpfes Schwert. Das liegt auch an der Art und Weise, wie es durchs Parlament gebracht wurde. Die Abgeordneten wagten es nicht, den Entwurf im Plenum öffentlich zu verhandeln. Sie delegierten ihre Befugnisse unter Verweis auf eine selten genutzte Sonderregelung an ein Gremium aus Mitgliedern des Rechts-, Bildungs- und Kulturausschusses. In der Bevölkerung wurde das als Zeichen der Unentschlossenheit gewertet. „Die Iraner haben verstanden, dass sie die Macht haben, ihre Zukunft zu gestalten“, sagt ein Politikwissenschaftler. „Das ist eine dramatische Veränderung.“
Der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für den Schutz der Familie zeigt sich überzeugt, dass die verschärfte Strafverfolgung die „sozialen Anomalien“, so nennt das Regime das Verhalten der mutigen Frauen, bis zum Herbst beenden werde. Erhebungen hätten ergeben, dass sich nach einer zweiten Verwarnung und Strafandrohung angeblich 95 Prozent der Frauen an die Kleidungsvorschriften halten würde. Solche Verwarnungen kommen meist per SMS und klingen so: „Veehrter Fahrzeugbesitzer mit dem Nummernschild XYZ: In Ihrem Auto ist es gestern um 00.38 in der Nähe der Taleshan-Brücke zu einem Gesetzesverstoß (Entschleierung) gekommen. Nutzen Sie im Falle eines Widerspruchs innerhalb von 48 Stunden den unten stehenden Link. Im Falle einer Wiederholung wird ihr Fahrzeug beschlagnahmt.“
Das neue Gesetz sieht Fahrverbote von bis zu drei Monaten vor. Bisher waren es nur zwei Wochen. Vor allem Taxifahrer trifft das hart, weshalb sich schon jetzt tagtäglich Konflikte in Taxis abspielen. „Ich bitte die Frauen höflich, ein Kopftuch aufzusetzen“, sagt ein Taxifahrer, der bereits zwei Verwarnungen erhalten hat. „Aber die meisten weigern sich.“ Grinsend erzählt er von seiner religiösen Mutter, die ihm gesagt habe, deren Geld solle er ohnehin nicht annehmen, weil es schmutzig sei.
Selbst große Unternehmen aus der IT-Branche wurden schon belangt, weil sich auf ihren Websites Fotos von Mitarbeiterinnen ohne Kopftuch fanden. Der größte Onlinehändler des Landes musste zwölf Tage seine Büros schließen und anschließend demütig ein Foto mit verschleierten Mitarbeiterinnen veröffentlichen. So will die Regierung erreichen, dass Menschen aus Sorge um Jobs und Gewinne Druck auf die Frauen ausüben. Doch Technologiefirmen sind in der Zwickmühle. Sie können es sich nicht leisten, junge Talente zu verlieren, die auch außerhalb Irans einen Job finden könnten. Tausende gut ausgebildete Iraner sind diesen Weg längst gegangen.
Die neuerliche Zuspitzung durch die Islamisten im Iran hat auch mit dem Aspekt der „Nation Reputation“ zu tun. Wegen der blutigen Niederschlagung der Proteste hatten die USA und die EU zwar ihre Sanktionen verschärft – doch Teheran hat Umwege gefunden, sein Öl verkauft es nach China und Indien, seine Drohnen sind in Russland Exportschlager für den blutigen Angriffskrieg Putins in der Ukraine. Die Brics-Gemeinschaft aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika hat gerade beschlossen, Iran in ihren Kreis aufzunehmen. Und die Aussöhnung mit Saudi-Arabien führt Teheran weiter aus der geopolitischen Isolation, selbst die USA verhandeln wieder mit dem Iran. Die Atomgespräche waren während der Proteste abgebrochen worden. Nun versucht Washington einen Mini-Deal, um US-Gefangene im Iran freizubekommen.
Laut Beobachter im Iran zeigt sich allein in der Hauptstadt jede zehnte Frau ohne Kopftuch. Im April hatte der Chef der nationalen Polizeibehörde, Ahmad-Reza Radan, angekündigt, dass Regelbrecherinnen künftig mithilfe von Kameras und Gesichtserkennungssoftware identifiziert würden. Doch auf seine Ankündigung folgte wenig. Möglicherweise liegt das an den großen Datenmengen, die ausgewertet werden müssten, um alle Gesichter ganztägig und flächendeckend zu scannen. „Wir haben entschieden, uns nicht einschüchtern zu lassen“, sagt eine Studentin in der Innenstadt. Auch über die Rückkehr der Sittenpolizei im Juli zeigt sie sich unbeeindruckt. „Die haben Angst, weil sie gespürt haben, dass ihre Macht instabil ist.“
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