Die Ismail-Aga-Gemeinde gilt als eine der größten orthodox-sunnitischen Gemeinden in der Türkei. Sie predigt gegen den Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, auf der die türkische Staatsräson ursprünglich basiert. Die weiblichen Mitglieder müssen sich verhüllen, die männlichen Bärte trägen. Die Ismail-Aga-Gemeinde unterhält eigene Koranschulen und Studentenwohnheime. Gegründet hat sie 1980 der Imam Mahmut Ustaosmanoglu, der sie danach 42 Jahre lang leitete. Als er starb, nahmen an seiner Beerdigung Präsident Recep Tayyip Erdogan und mehrere Minister der AKP teil, Frauen waren als Trauergäste ausdrücklich unerwünscht.
In Istanbul stand sogar ein führender Funktionär der Organisation vor Gericht: Die Tochter des Gründers der zu Ismail-Aga gehörenden Hiranur-Stiftung hat ihren Vater angezeigt, weil er sie 2002 als Sechsjährige mit einem Imam der Sekte zwangsverheiratet und so sexuellem Missbrauch ausgesetzt haben soll. Es ging um eine sogenannte Imam-Ehe, die offiziell nicht anerkannt, aber nicht unüblich ist. Obwohl die Anzeige schon 2020 erfolgte, wurden Yusuf Z. und der inzwischen Ex-Ehemann festgenommen, nachdem eine regierungskritische Zeitung den Fall öffentlich gemacht hatte. Die Zurückhaltung der Justiz könnte mit dem Naheverhältnis der Sekte zur Macht zu tun haben.
Und ihr Einfluss fällt auch jenseits der türkischen Staatsgrenzen auf: Deutsche Sicherheitsbehörden haben ein Auge auf die Ismail-Aga-Gemeinde, Sicherheitsorgane werfen ihr vor, „eine umfassende Gültigkeit der Scharia zu propagieren“. Deutsche Verfassungsschützer warnen seit Langem vor dieser weltweit agierenden Organisation: Die türkische Ismail-Aga-Gemeinde propagiert die Einführung der Scharia, hält Demokratie für ein Ding der „Ungläubigen“ und lehnt die Gleichstellung von Frauen ab.
Eine besonders einflussreiche islamistische Gruppierung war die Gülen-Bewegung. Wie groß ihre gesellschaftliche Macht tatsächlich war, ist erst durch den gescheiterten Militärputsch 2016 öffentlich bekannt geworden, quasi über einen Umweg: Denn weil Präsident Recep Tayyip Erdogan seinen einstigen engen Vertrauten Fethullah Gülen und dessen Anhänger für den Putschversuch verantwortlich machte, ließ er sie aus allen Ämtern entfernen. In Ministerien, Bürokratie und Justiz fehlten danach über hunderttausend Beschäftigte.
Beobachter behaupten, dass diese Lücken zum Teil mit Mitgliedern der Ismail-Aga-Gemeinde gefüllt worden seien. Tatsächlich arbeiten viele Menschen, die in der Ismail-Aga-Gemeinde ausgebildet wurden, heute in der türkischen Justiz, der Polizei, bei den Streitkräften sowie im Bildungsministerium.
Anfang des Jahres wurde nun bekannt, dass EU-Geld an die islamistische Organisation aus der Türkei floss. Die EU-Kommission hatte der Ismail-Aga-Jugendorganisation „Yavuz Sultan Selim“ im vergangenen Jahr 31.455 Euro aus dem „Erasmus+“-Programm zugesprochen. Finanziert wurden damit bis Mai 2023 laufende Workshops zum Thema Diskriminierung von Muslimen.
Die Brüsseler Behörde nahm dabei eigene Regeln nicht ernst. Denn diese sehen vor, dass Empfänger von EU-Mitteln die in der Charta der Grundrechte der EU verankerten Werte einhalten. Abgeordnete des EU-Parlaments haben, nachdem sie durch die Zivilgesellschaft von der EU-Förderung erfuhren, eine Anfrage an die zuständige EU-Kommission gestellt, mit welcher Begründung eine solche Organisation, die den Prinzipien der Grundrechte zuwider handelt, Gelder aus Brüssel erhalten könne.
In der Antwort der Kommission, die MENA Research Center vorliegt, legt diese „großen Wert darauf, dass Begünstigte von EU-Mitteln die im Vertrag über die Europäische Union und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dargelegten Werte der EU achten.“ Anscheinend hat Brüssel entgegen seiner Überprüfungspflicht, an welche Organisationen öffentliche Gelder fließen, verstoßen. Die Kommission hat nicht einmal nachgefragt, in welchem Dunstkreis sich die Institution befindet, welche die Finanzierung erhielt. Demnach hat, so die Aussage der Kommission, „die türkische Nationale Agentur das von ‚Yavuz Sultan Selim‘ durchgeführte Projekt gemäß den Verfahren des Programms Erasmus+ und des zugehörigen Leitfadens ausgewählt; die Kommission hat die Ausführung des Haushalts den Nationalen Agenturen übertragen, die dann für die Durchführung eines fairen und transparenten Auswahlverfahrens für die Begünstigten in ihren jeweiligen Ländern zuständig sind (indirekte Mittelverwaltung). Das Projekt erhielt eine Finanzhilfe in Höhe von 31.455 EUR im Rahmen von Jugendaktivitäten von Erasmus+, um jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, Begegnungen sowie kulturelles und bürgerschaftliches Handeln kennenzulernen. Im Zuge des Projekts wurden Workshops für junge Frauen und Männer zum Thema „Diskriminierung von Muslimen im Netz“ organisiert. Die Aktivitäten endeten am 31. Mai 2023.“
Auf öffentlichen Druck, dank auch des EU-Parlaments, werden nun die bereits ausgezahlten Gelder vom Fördernehmer zurückverlangt. „Die Kommission hat die Finanzierung dieses Projekts bereits ausgesetzt und Verfahren in die Wege geleitet, um ausgezahlte Mittel wiedereinzuziehen“, so die Brüsseler Behörde.
Bereits in der Vergangenheit ist es bei Fördergeldern auch die Europäische Union mittels der Drittvergabe über Organisationen im Partnerland zu Verletzungen der EU-Bestimmungen gekommen. So wurde jahrelang der sogenannte „Islamophobia Report“ durch die EU kofinanziert, obwohl es sich bei der Projektleitung um eine Institution handelt, die der türkischen AKP unter Präsident Erdogan nahesteht. Auch hier wurde erst auf Druck des EU-Parlaments und der Zivilgesellschaft reagiert und die Projektförderung für den Herausgeber des Reports, dem umstrittenen Politikwissenschaftler Fared Hafez, eingestellt.
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