Die Corona-Pandemie hat es in den letzten zwei Jahren geschafft, dass Fußgänger nicht mehr ständig in den großen Städten Europas von religiösen Erweckern unaufgefordert angesprochen werden. Die Erweckungstheologen sind leider zu häufig dafür von Esoterikern und Impfgegnern verdrängt worden.
Trotzdem sind, sobald die Bürgersteige wieder ein wenig stärker benutzt werden können, fragwürdige Religionsvertreter wieder unterwegs, um ihre Botschaft unter die Leute zu bringen. Dazu zählen vermehrt auch islamistische Gruppierungen, die ihre wahren Ziele taktisch klug verstecken.
Die Fußgängerzone einer österreichischen Metropole: Corona ist gefühlt auf dem Rückzug, gegenüber Hauptkirche der Stadt hat der Verein einen Infostand aufgebaut. Vier freundliche Frauen in islamisch korrekter Kleidung kümmern sich um interessierte Passanten und bewerben ihre Jugendarbeit. „Wir sind ein Teil der Stadt. Wir vermitteln unseren Jugendlichen Bildung und demokratische Werte“, erklärt eine der Frauen, die sich als Volksschullehrerin vorstellt.
Der Verein, vor allem in Deutschland aktiv in der Vergangenheit, erhielt bereits zwischen 2017 und 2019 insgesamt 180 000 Euro aus dem Programm „Demokratie leben!“. Sein erklärtes Ziel: „Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für islamistische Haltungen und Einstellungen unter Jugendlichen zu sensibilisieren.“
„Demokratie leben!“ ist laut Regierung ein europaweit einzigartiges Programm, das junge Menschen für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gewinnen und gegen Demokratiefeindlichkeit wappnen soll. Förderprojekte zur Vermeidung religiöser Radikalisierung bei muslimischen Jugendlichen standen bereits in der Kritik – beispielsweise wegen Zweifeln an ihren Trägern, 2016 etwa einem Verband, der der Muslimbruderschaft nahesteht.
Auch an dem Programm des Vereins mit Straßenständen in Österreich, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden sind Zweifel angebracht. Denn obwohl der Verein es in seinem Förderantrag verschwieg und auch sonst nicht öffentlich erwähnt, ist er religiös motiviert und gehört der Gülen-Bewegung an. Das Netzwerk des islamischen Predigers Fethullah Gülen ist in Europa bekannt, weil die türkische Regierung unter dem Autokraten Erdogan es für den gescheiterten Putsch im Jahr 2016 verantwortlich macht. Seitdem werden Anhänger verfolgt, sitzen zu Tausenden in Haft. Und viele flohen und bekamen Asyl. Die Frauen am Infostand streiten die Zugehörigkeit ihres Vereins zu der Bewegung nicht ab. Sie behaupten aber, ihre Bildungsarbeit habe mit Religion nichts zu tun.
Religion ist weltlichen Systemen wie der Demokratie überlegen, sagt ein Text
Dagegen spricht ein Grundsatzpapier des Vereins. In seiner „Handreichung für die praktische Jugendarbeit“ gibt er auf 40 von 90 Seiten Einblick in seine normativen Werte: „Die Religion beschäftigt sich ganzheitlich mit dem Wesen und dem Leben des Menschen. Weltliche Systeme hingegen sind einem ständigen Wandel unterworfen. Sie können nur in Bezug auf die Zeiten, in denen sie dominieren, beurteilt werden“, heißt es. Nach dieser Gegenüberstellung fährt der Text fort: „Der Glaube an einen Gott, das Jenseits, Propheten, Offenbarungsschriften, Engel und die Vorherbestimmung unterliegen hingegen keinem Wandel. (Wir) dürfen dabei nicht aus den Augen verlieren, dass Demokratie keine messbare Größe ist, die Religion hingegen unveränderliche Regeln und Werte für das menschliche Leben bereit(hält).“
Hier der ewige, überlegene Islam, dort die vergängliche, unterlegene Demokratie? Das dürfte ein Islamverständnis sein, das die Regierungen in Europa eher verhindern als fördern wollen. „Die Überzeugung, dass göttliche Regeln Ewigkeitscharakter hätten, unveränderbar seien und sich mit ihnen alle gesellschaftlichen Anliegen regeln ließen, zeigt eine wortwörtliche Auslegung der islamischen Quellen“, sagt ein Präventionsexperte in Wien. „Das ist für mich eine eindeutig islamistische Position.“
Die Schulpädagogin, die in der Fußgängerzone für den Verein wirbt, findet den Text dagegen unbedenklich: „Dort steht nur, was ist“, sagt sie – und erzählt, dass fünf Mal Beten am Tag in ihren Kreisen Pflicht sei, damit man nicht in die Hölle kommt. Damit liegt sie auf einer Linie mit der Autorin des oben bereits erwähnten Kapitels, sie schreibt nicht nur über die islamische Religion, sie leitet auch eine vereinseigene Kita in Deutschland und hat die Arbeit des Projekts begonnen. Eine Einzelmeinung vertritt sie nicht, in ihren Fußnoten gibt sie stets Gülen selbst und Gefolgsleute an.
Das Netzwerk
Offenbar hat die öffentliche Hand von dem Verein, den sie unterstützt, kein klares Bild. Der Geldfluss des deutschen Ministeriums für den Verein wurde zwar mittlerweile gestoppt, dafür hat ein Bundesland in Deutschland es weiter gefördert. Man genehmigte rund 52.000 Euro aus Landesmitteln für die Projektfortsetzung, und finanziert jedes Jahr 560.000 Euro Betriebskosten für die Vereinskita mit 65 Kindern. Auch andere Quellen sprudeln. Unter anderem für Kunstprojekte, Jugendcoachings und eine Gedenkstättenfahrt spendierte eine andere Landesanstalt dem Verein 145.000 Euro für die Jahre 2019 und 2020.
Zur Bildungsarbeit der Bewegung in Deutschland zählen seit Jahren neben eigenen Kitas, Schulen und Nachhilfeinstituten gezielte religiöse Unterweisungen für Kinder und Jugendliche. Es gibt Gebetsstunden, Koranstudien, Vorträge. Es gibt Videosessions mit Gülen-Predigten, geschlechtergetrennte Camps, Projekte zur moralischen Charakterbildung. Jedem Angebot pauschal fundamentalistische Ziele zu unterstellen, würde dem Engagement des Netzwerks nicht gerecht. Die Bildungsinitiativen der Bewegung generell von diesem Verdacht freizusprechen, wäre aber ebenfalls unangebracht. „Wer, wie in der Vereinsbroschüre geschehen, ‚illegitime Neigungen‘ und ‚abwegige Wünsche‘ bei Jugendlichen verurteilt, akzeptiert keine Lebensentwürfe außerhalb der heterosexuellen Norm“, sagt ein Islam-Experte.
Der Islam als bessere Demokratie und maßgebliche Moral – diese Botschaft befähigt muslimische Jugendliche vermutlich kaum dazu, für Freiheit, Selbst- und Mitbestimmung einzutreten. Doch offenbar gelingt es Gülen-Vereinen, ihre Haltung vor staatlichen Förderern zu verstecken. Die diffusen Verzweigungen seiner Netzwerke helfen dabei.