Sekten-ähnliche Bewegungen werden in der Türkei immer stärker. Präsident Erdogan scheint diese extremistischen Gruppierungen zumindest passiv zu unterstützen. Die Gefahr, dass diese Islamisten auch in den türkischen Communities in Westeuropa Fuß fassen, wird immer größer.
Ein eigentlich unfassbarer Vorgang in einem Land, das zumindest pro forma Mitglied der Europäischen Union werden möchte:Ein sechsjähriges Mädchen wurde von seinem Vater, der gleichzeitig der Gründer und Chef der islamischen Hiranur-Sekte ist, gezwungen, einen 20-jährigen Mann zu heiraten, der ebenfalls der Sekte angehörte. Der Vorgang an sich liegt Jahre zurück, wurde aber nun erst in die Öffentlichkeit getragen. Auch wird immer wieder davon berichtet, dass es in islamischen Sekten in der Türkei zu sexuellen Übergriffen auf Minderjährige durch Imame und Religionslehrer kommt. Die Regierung von Präsident Erdogan scheint sich nicht um diesen seelischen und körperlichen Missbrauch zu kümmern. Auch die unter der Kontrolle Erdogans stehende Religionsbehörde Diyanet schließt beide Augen.
Die heute 22-Jährige Frau hatte der Staatsanwaltschaft geschilderte, wie ihr Vater sie als sechsjähriges Mädchen zwang, den damals 20-jährigen „Glaubensbruder“ zu heiraten. Diese Aussagen wurden vor wenigen Tagen der unabhängigen türkischen Zeitung „Birgün“ zugespielt, die sie dann veröffentlichte. Der Skandal trifft vor allem die regierende islamische AK-Partei (AKP) und ihren Vorsitzenden, Präsident Recep Tayyip Erdogan, die seit Jahren Sekten wie die Hiranur und ähnliche Organisationen massiv unterstützen.
Die Heirat wurde damals zunächst von einem Imam vollzogen und erst, als sie 18 Jahre alt war, auch auf einem Standesamt offiziell legalisiert. Wenig später setzte sich die junge Frau von der Sekte ab und beantragte die Scheidung, die im November 2020 auch vollzogen wurde. Unmittelbar danach ging sie zur Staatsanwaltschaft und zeigte ihren Ex-Mann und ihre Eltern wegen Kindesmissbrauchs und erzwungener Heirat an, doch es tat sich offenbar nichts. Nachdem der Fall zwei Jahre verschleppt worden war, gelangte „Birgün“ an ihre Aussagen und machte den Skandal öffentlich. Seit die islamische AKP mit Erdogan an der Spitze die Türkei regiert, wurden immer wieder Fälle von früh in die Ehe gezwungenen Kindern bekannt, aber auch Mehrfachheiraten, gegen die nicht vorgegangen wurde. Stattdessen verbreiten die Religionsbehörde Diyanet und Sektenvorsteher immer wieder Gutachten, wonach Mädchen spätestens nach der ersten Blutung im heiratsfähigen Alter seien. Offiziell beträgt das Mindestheiratsalter für Mädchen und Buben in der Türkei 18 Jahre, Mädchen dürfen in Ausnahmefällen schon mit 16 heiraten.
Die Staatsanwaltschaft war lange Zeit in Schweigen gehüllt, erst der öffentliche Aufschrei in türkischen sozialen Medien zwang sie, sich zu positionieren. Es wurde durch den Druck ein Verfahren vor Gericht beantragt und die Justiz fordert nun hohe Gefängnisstrafen für den Ehemann und die Eltern der Frau. So soll der Ex-Ehemann für 67 Jahre hinter Gitter, die Eltern jeweils für 22,5 Jahre. Ein Termin für den Prozessbeginn im kommenden Mai wurde bereits anberaumt. Die massiven Proteste zwangen auch die Regierung und deren führende Partei AKP dazu, im Parlament tätig zu werden. Es wurde eine Untersuchung der Hiranur-Stiftung angekündigt. Wenn ein neuer Missbrauchsskandal bekannt wird, sprechen Vertreter der Regierung oder der staatlichen Religionsbehörde Diyanet von „Einzelfällen“ und „Perversen“. Obwohl die Staatsanwaltschaft auch hier zumindest verspätet ermittelt, ist von einer Reaktion der Regierung hingegen nichts bekannt, amtliche Kontrollen für religiöse Einrichtungen wurden nicht angeordnet.
Diese Sekten in der Türkei sind jedoch nicht nur verantwortlich für Zwangsehen und Kinderheirat von minderjährigen Mädchen. In den vergangenen Jahren wurden in der Türkei immer mehr Fälle missbrauchter Kinder angezeigt. Beschuldigte waren zumeist Koranlehrer vom Staat geduldeter Islam-Sekten, die eigentlich illegal agieren.
Hiranur ist Teil eines Netzwerks, das in der ganzen Türkei präsent ist. Immer wieder hat es in den letzten Jahren in den vielen Heimen und Internaten von Sekten schlimme Skandale gegeben. So verbrannten 2016 in einem schlecht gesicherten privaten Mädchenheim bei einem Hausbrand zwölf Mädchen, 22 wurden schwer verletzt. In anderen Sektenheimen häuften sich Suizide und Suizidversuche verzweifelter Jugendlicher. Mehr als ein Dutzend Minderjähriger sollen in einem solchen Heim von Koranlehrern einer Religionsschule missbraucht und vergewaltigt worden sein. Die Kinder besuchten das Internat der nicht offiziell registrierten Sekte Fikih-Der in Istanbul. Nachdem sich sechs Jungen und ihre Eltern an die Polizei gewandt hatten, wurden inzwischen drei tatverdächtige Lehrer festgenommen. Bislang haben unabhängige Recherchen von türkischen Journalisten belegen können, dass solche Wohnheime illegal betrieben werden. Zudem wurde öffentlich, dass Sekten wie die Fiji-Der, Ensar und Hiranur enge Verbindungen zur islamistischen AKP-Regierung und zur Familie des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan haben. Trotz der Skandale erhalten diese Sekten bis heute lukrative Regierungsaufträge für den Schulunterricht und kommunale Geldzuwendungen in Millionenhöhe. Ensar hat ebenso wie die millionenschweren Tügva- und Türgev-Stiftungen der Erdogan-Familie das Erbe der früher mit dem Staatschef verbündeten, dann verfemten Gülen-Bewegung angetreten, die ihr Sektenimperium auf Bildung und außerschulische Betreuung aufgebaut hatte. Inzwischen wurden sogar ehemalige Wohnheime und Nachhilfeschulen der Gülenisten nach der Enteignung an Ensar, Tügva oder Türgev überschrieben.
Sicherheitsexperten in den EU-Mitgliedsländern warnen seit geraumer Zeit davor, dass solche Sekten, unterstützt von vielen türkischen Islamverbänden, auch Zulauf unter den Communities in Europa haben. „Wir warnen Regierungsstellen vor diesen islamistischen Extremisten. Diese Gruppierungen bilden eine Gefahr für unsere Gesellschaften und müssen verstärkt unter Beobachtung gestellt werden. Wenn wir dies nicht schaffen, öffnen wir neue Türen für Teile des politischen Islamismus in Europa. Das müssen wir vermeiden“, so ein Geheimdienstler aus den Niederlanden. Politischer Islamismus geht nicht nur allein von der Muslimbruderschaft aus, die islamistische Regierung in der Türkei setzt solche Gruppierungen in Europa ein, um einmal mehr die Gesellschaften zu spalten und die türkischen Gemeinschaften in der Diaspora enger an die AKP-Ideologie zu binden.
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