Verliert Israel mit der Politik der rechts-religiösen Regierung ihren Status als einzige Demokratie im Nahen Osten? Es scheint fast so zu sein. Der Kontext für die „Reformen“ der israelischen Regierung, die einem Staatsumbau gleichkommen, ist die Frage, in was für einem Staat die Israelis leben wollen. Und damit sind nicht nur die Juden mit israelischem Pass gemeint, sondern auch die arabischen Israelis, die mittlerweile zu Bürgern zweiter Klasse degradiert wurden. Wollen Israelis in einem demokratischen Land leben, das seine Minderheiten schützt, oder in einem primär jüdischen, in dem der Wille der Mehrheit rücksichtslos durchgesetzt wird?
Das israelische Parlament hat den ersten Teil der umstrittenen Justizreform der Regierung Benjamin Netanjahus verabschiedet. 64 Abgeordnete stimmten in der Knesset in Jerusalem in der abschließenden dritten Lesung für ein Gesetz, das dem Obersten Gericht die Möglichkeit nimmt, Regierungsentscheidungen als „unangemessen“ zurückzuweisen. Die Opposition boykottierte die Abstimmung, nachdem alle Versuche, einen Kompromiss zu finden, gescheitert waren.
Unter dem Grundsatz der „Angemessenheit“, der nun gekippt wurde, hatte das Oberste Gericht etwa ein Mitglied der Koalition vom Amt ausgeschlossen. Die Ernennung von Arje Deri zum Gesundheits- und Innenminister sei „in höchstem Maße unangemessen“, beschloss es vor wenigen Monaten. Der Vorsitzende der Schas-Partei war zuvor bereits drei Mal strafrechtlich verurteilt worden, wegen Steuerhinterziehung, Bestechung und Betrug. Deri habe in seinen früheren politischen Ämtern versagt, „der Öffentlichkeit loyal und rechtmäßig zu dienen“, befand das Gericht. Es dürfte nun nicht mehr lange dauern, bis Netanjahu ihn zurück in die Regierung holt. Das oberste Gericht kann ab jetzt nichts mehr dagegen unternehmen.
Der Kampf um dieses Gesetz, das dem Obersten Gericht die Macht nimmt, Entscheidungen der Regierung als „unangemessen“ zurückzuweisen, hat Israel gefährlich tief gespalten. Seit Wochen geht die Zivilgesellschaft auf die Straße, versucht Einfluss zu nehmen auf die Beschneidung der Justiz, die einer Demokratie unwürdig ist. Befürwortern wie Gegnern der Reform durch die Regierung Netanjahu geht es um mehr. Vor allem den rechten und ultraorthodoxen Parteien, die Teil der Regierungskoalition sind, ist das Oberste Gericht ein Dorn im Auge, weil es etwa den Siedlungsbau im palästinensischen Westjordanland einschränkt und die Rechte von reformistischen jüdischen Gemeinden gestärkt hat.
In Israel herrscht schon lange Streit darüber, ob religiöse Männer und Frauen Wehrdienst leisten müssen wie alle anderen. Ultraorthodoxe Männer konzentrieren sich zumeist ganz auf ihr Studium der heiligen Schriften. Dafür bekommen sie eine schmale Sozialhilfe. Die neue Regierung will das Recht aufs Thorastudium festschreiben. Damit würden Ultraorthodoxe komplett für Militärdienst und Arbeitsmarkt entfallen. Dass die Regierung ihr Klientel bedient und den ultraorthodoxen Gemeinden Milliarden von Schekeln bereitstellt, während diese sich weigern, ihren Kindern grundlegende Bildung wie Mathematik-Kenntnisse zu vermitteln, größtenteils nicht arbeiten und keinen Wehrdienst leisten, gießt zusätzlich Öl ins Feuer.
Eine der vielen Bruchlinien der höchst diversen israelischen Gesellschaft ist der Gegensatz zwischen säkularen Bürgern, die bislang die Mehrheit stellten. Und den Ultraorthodoxen, die – sollten die hohen Geburtenraten konstant bleiben – die Mehrheit von morgen sind.
Wer seit sieben Monaten gegen die Justizreform auf die Straße geht, ist die breite Mittelschicht des Landes. Nicht nur liberale, auch konservative und modern-orthodoxe Juden, die Wehrdienst leisten, den Großteil der Steuern zahlen und die es satthaben, dass eine dogmatische Minderheit ihnen ihren Lebensstil vorschreiben will. Unterstützung bekommen die Demonstranten aus vielen Ecken der Gesellschaft, sehr vehement auch aus der Wirtschaft. Das „Business Forum“, in dem sich die Chefs von 150 der wichtigsten Unternehmen des Landes zusammengeschlossen haben, hatte den Montag zum Streiktag erklärt. Große Einkaufszentren blieben geschlossen, viele Unternehmen des High-Tech-Sektors schlossen sich an. Nun berät der mächtige Gewerkschaftsdachverband Histadrut über einen möglichen Generalstreik.
Und die arabischen Bürger in Israel? Die meisten Menschen aus der arabischen Gemeinschaft meiden bislang die Proteste. Während Hunderttausende jüdische Israelis seit Monaten auf die Straßen ziehen, um gegen die Entmachtung der Justiz zu demonstrieren, bleiben die Araber, immerhin knapp 20 Prozent der Bevölkerung, den Protesten fern. „Von welcher Demokratie sprechen die Israelis eigentlich?“, sagt eine palästinensische Israelin. „Wir Araber leben in einer anderen Situation als der Rest der Gesellschaft“, sagt sie. Während die Demonstranten den Erhalt der Demokratie fordern, ignorierten sie die Themen der arabischen Bevölkerung wie die Gewalt, die Besatzung, die Waffenkontrolle und den Mangel an Grundrechten für alle.
Viele arabische Israelis sehen keine Veranlassung, die Rechte des Obersten Gerichtes zu verteidigen. Ihr Vorwurf: Frühere Entscheidungen diskriminierten Palästinenser sowohl in Israel als auch im Westjordanland und in Gaza. Beispielsweise mit einem Gesetz, das das Wesen Israels als Nationalstaat des jüdischen Volkes festlegt. Nicht-Juden würden dadurch zu Bürgern zweiter Klasse. Das Oberste Gericht hat in den vergangenen Jahren zwar auch wichtige Urteile gefällt, um die Rechte der Araber in Israel, sowohl einzeln als auch kollektiv, zu schützen. Den Palästinensern ist das jedoch zu wenig. Statistiken des Israelischen Instituts für Demokratie zeigen, dass die arabischen Bürger strukturell benachteiligt werden und immer weniger Vertrauen in das Oberste Gericht haben. Die Schulen in den arabischen Gebieten sind demnach schlechter finanziert, das Bildungsniveau ist niedriger, die Chancen auf einen Job sind geringer und Araber verdienen weniger.
„Wir haben die Araber seit der Staatsgründung Israels vernachlässigt: Im Gesundheitswesen, in der Wirtschaft, in der Bildung“, sagen jüdische Israelis, die sich seit Jahren gegen die Diskriminierung der arabischen Bevölkerung richtet. Fragt man sie, warum auf den Demonstrationen keine Araber zu sehen sind, antworten sie, dass die Juden „die Besatzer sind. Wir müssen für sie kämpfen“, sagen diejenigen, die für Gleichberechtigung aller Bürger Israels eintreten. Dabei dürfte alles erst mal noch schlimmer werden. Die Knesset hat erst kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das arabische Sexualverbrecher künftig schärfer bestrafen soll als jüdische.
Düstere Aussichten sind das also für Israels Zukunft, zumal Scharfmacher wie der Polizeiministers Itama Ben-Gvir ankündigen, dies sei „erst der Anfang“ gewesen. Tatsächlich ist die Verabschiedung des ersten Gesetzes nur ein Etappensieg für Israels Regierung. Kurioserweise dürfte sich bald schon das Oberste Gericht mit der eigenen Entmachtung befassen. Petitionen wurden bereits von verschiedenen Seiten angekündigt, um das neue Gesetz als „nicht verfassungsgemäß“ zurückweisen zu lassen. Auch die Protestbewegung wird weiter kämpfen, auf den Straßen und im Parlament. Oppositionsführer Lapid hat schon ankündigt: „Wir werden die Zukunft unserer Kinder nicht aufgeben.“
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