Die Zahlen sind spektakulär: Laut den jüngsten Angaben der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex sind im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von Januar bis Juli 2024 ganze 64 Prozent weniger Migranten über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien gelangt. Die bis Mitte August 2024 aufdatierten Informationen des italienischen Innenministeriums bestätigen den Trend: Danach sind im laufenden Jahr bisher 37.818 Personen gekommen gegenüber 101.637 im Vorjahr. Während allein im August 2023 noch über 25.000 Menschen in Italien angelandet sind, waren es im laufenden Monat noch knapp 4.500. Italiens Innenminister Matteo Piantedosi zeigte bei der Präsentation der entsprechenden Statistiken seine Zufriedenheit, die Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni lobte die Effizienz der Massnahmen der Regierung. „Die Zeit ist vorbei, da man glaubte, Italien werde zum Flüchtlingslager Europas“, sagte Tommaso Foti, der Fraktionschef der Fratelli d’Italia im Parlament in Rom.
Giorgia Meloni ist nicht zuletzt wegen des Versprechens, das Migrationsproblem in den Griff zu bekommen, an die Macht gelangt. Nach ihrem Sieg bei den letzten Parlamentswahlen lief alles aus dem Ruder: Die Zahl der Ankünfte schnellte in Rekordhöhe, im Flüchtlings-Hotspot Lampedusa sorgten erbärmliche Zustände für Schlagzeilen, die Regierung lieferte sich einen kleinlichen Nervenkrieg mit privaten Seenotrettern. Auch kam es zu diplomatischen Zwischenfällen mit Frankreich, wo man das Gefühl hatte, die Unfähigkeit der Regierung Meloni ausbaden zu müssen. Und als am 26. Februar 2023 vor der Küste des kalabrischen Cutro bei einem Schiffsunglück 94 Migranten ums Leben kamen, unter ihnen 35 Kinder, schien die Flüchtlingspolitik Melonis an ihrem Tiefpunkt angelangt zu sein.
Das alles scheint nun wie weggeblasen. Es gibt in Italien derzeit keine schlimmen Bilder aus überfüllten Aufnahmezentren, nur noch vereinzelt tauchen in den Medien Meldungen über dramatische oder gescheiterte Rettungen auf hoher See auf. Die Trendumkehr hat auch damit zu tun, dass Meloni das Migrationsthema internationalisiert hat. Sie mobilisierte die EU und setzte einen diplomatischen Kraftakt mit den nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainerstaaten in Gang. Dieser zielt darauf ab, die wirtschaftliche Entwicklung in Afrika zu beschleunigen und wurde von den Staats- und Regierungschefs der G-7-Gruppe ausdrücklich unterstützt. Vor allem das im letzten Sommer unterzeichnete Migrationsabkommen zwischen Tunesien, Italien und der EU scheint sich direkt auf den Rückgang der Migrationszahlen auszuwirken, das zeigen Zahlen, die der Think-Tank Ispi erhoben hat. Im Gegenzug für grosszügige Finanz- und Wirtschaftshilfe geht die tunesische Regierung härter gegen Schlepper und Migranten vor, die meist Italien als erstes Ziel haben.
Die Kehrseite zeigt sich vor Ort. Zehntausende Migranten aus den Ländern südlich der Sahara sitzen derzeit in Tunesien fest, vor allem rund um die zentraltunesische Küstenstadt Sfax. Im Gegensatz zum Vorjahr hat sich ihre Situation verschlechtert. Sie leben unter prekären Bedingungen im Freien, ohne Zugang zu Essen, Trinkwasser und Gesundheitsversorgung. Mehrere Organisationen der Zivilgesellschaft, die sie vorher versorgt hatten, werden seit Mai dieses Jahres strafrechtlich verfolgt, ihre Vorsitzenden sind in Haft.
Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten, über Bezahldienstleister aus dem Ausland Geld zu erhalten, massiv eingeschränkt, so dass für die meisten Migranten die Überweisungen von Familien und Freunden wegfallen. Die Situation verschärfe sich, je länger der Zustand anhalte, sagen NGOs warnend. Immer häufiger komme es zu Auseinandersetzungen zwischen Gruppen von Migranten und tunesischen Einwohnern, die unter der anhaltenden Wirtschaftskrise im Land leiden, aber auch zwischen Migranten selbst. Auch werden Migrantinnen und Migranten von anderen gekidnappt und nur gegen Lösegeldzahlungen von Angehörigen wieder freigelassen. Tunesische Offizielle hatten in der Vergangenheit immer wieder betont, man wolle nicht die Grenzpolizei für Europa spielen. Allerdings hat sich die Zahl der abgefangenen Migranten massiv erhöht. Während man 2023 insgesamt rund 80 000 Personen festgesetzt habe, seien es allein in den ersten sieben Monaten des Jahres 2024 schon 75 000 gewesen.
Laut „Avocats sans frontières“ wurden im vergangenen Jahr mindestens 900 Migranten willkürlich festgenommen, ohne dass grundlegende rechtsstaatliche Regeln eingehalten wurden. Im vergangenen Sommer seien mindestens 1.000 bis 1.700 Personen in der Region um Sfax festgenommen worden und in die Wüstenregionen mit Libyen und Algerien deportiert worden. Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte hat kürzlich in Genf erklärt, dass die UNO Berichte über ein Massengrab an der tunesisch-libyschen Grenze untersuchen wolle. Die Abschiebungen gehen gemäss Augenzeugenberichten weiter, allerdings ist es nahezu unmöglich, das Ausmass einzuschätzen. Tunesien hat im Juni überdies seine eigene Seerettungszone im Mittelmeer eingerichtet. Damit wolle man die Wirksamkeit der Interventionen Tunesiens stärken, erklärte der tunesische Verteidigungsminister. Hilfsorganisationen sehen dies kritisch: In der Vergangenheit hatte es immer wieder Berichte gegeben, wonach die tunesische Küstenwache die Migrantenboote zum Kentern bringt oder ihnen die Motoren wegnimmt.
Die erschwerten Bedingungen auf der zentralen Mittelmeerroute halten Migranten und Schlepper allerdings nur bedingt von ihrem Vorhaben ab. Die Frontex-Zahlen zeigen, dass sie sich einfach andere Wege suchen, um nach Europa zu gelangen. So sind die irregulären Grenzübertritte auf der Westafrikaroute (via Kanarische Inseln) im ersten Halbjahr um 154 Prozent gestiegen, jene im östlichen Mittelmeer um 57 Prozent. Alles in allem hat der Migrationsdruck also nicht nachgelassen. Vielmehr scheint es zu gewichtigen Verlagerungen zu kommen.
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