Als der neue türkische Außenminister Hakan Fidan in diesem Monat sein Amt antrat, war er bei der türkischen Bevölkerung mehr oder weniger ein Unbekannter. Das gilt aber wirklich nur für die Öffentlichkeit: Ein Chefspion sollte dort nicht gerade große Bekanntheitswerte haben.
Er ist die Diskretion in Person. Seit mehr als zehn Jahren zählt Hakan Fidan zu den engsten Beratern des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Der 55-jährige Politologe Fidan hat seit 2010 als Chef des Geheimdienstes MIT bei allen wichtigen außenpolitischen Entscheidungen mitgewirkt – vom Drohneneinsatz im Libyen-Konflikt bis hin zur Vermittlung im Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Doch in der Öffentlichkeit hat Fidan bisher fast immer geschwiegen. Das wird sich jetzt ändern. Denn der loyale Berater des Sultans sitzt nun als neuer Außenminister in der türkischen Regierung.
Zu seinen ersten Förderern zählte der frühere Staatspräsident Abdullah Gül, der sich inzwischen von Erdogan abgewandt hat. Bald zog Erdogan den jungen Fidan ins Vertrauen und beauftragte ihn, Friedensverhandlungen mit der kurdischen PKK vorzubereiten, Fidan hat selbst kurdische Wurzeln über seinen Vater. 2011 traf er sich mit einem Führungsmitglied der PKK in Oslo. Ein Mitschnitt des Gesprächs geriet an die Öffentlichkeit und Fidan unter Druck. Ein Istanbuler Staatsanwalt lud ihn vor. In der AKP heißt es, der Vorstoß richtete sich eigentlich gegen den damaligen Ministerpräsidenten Erdogan, der an jenem Tag operiert werden sollte. Es ist eine dieser Episoden, in denen sich die Ränkespiele der türkischen Politik im Halbdunkel verlieren. Der gleiche Staatsanwalt wurde nach dem gescheiterten Putschversuch von 2016 als mutmaßliches Mitglied der Gülen-Bewegung festgenommen. Der MIT nahm bei der Verfolgung von mutmaßlichen Gülenisten im In- und Ausland eine zentrale Rolle ein.
In frühen Karrierejahren vertrat Fidan die Türkei bei der NATO, in Deutschland und bei der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien. Als er 2010 zum Geheimdienstchef befördert wurde, gab es eine ungewöhnliche Reaktion aus Israel. Der damalige Verteidigungsminister Ehud Barak kritisierte Fidans Ernennung und behauptete, dieser habe in Atomgesprächen mit Iran eine pro-iranische Haltung vertreten. In der AKP verweist man auf damalige Spannungen mit dem israelischen Geheimdienst. Kaum war Fidan im Amt, begann in Syrien der Krieg. Erdogan setzte auf einen Sturz von Machthaber Baschar al-Assad. Heute betreibt er eine Wiederannäherungspolitik. Sein neuer Außenminister dürfte auch dabei eine wichtige Rolle spielen. Während des syrischen Bürgerkrieges sah Erdogan seine Chance, die Politik des Nahen Ostens zu beeinflussen. Er unterstützte die Rebellen, die Diktator Baschar al-Assad stürzen wollten. Der türkischen Regierung wird vorgeworfen, Waffen an die Islamisten geliefert zu haben, was sie dementiert. Der MIT und Fidan sollen dabei eine zentrale Rolle gespielt haben.
Der ehemalige amerikanische Botschafter in der Türkei und dem Irak, James Jeffrey, sagte 2013, Fidan sei „das Gesicht des neuen Nahen Ostens“ – aber nicht zwangsweise ein Freund der USA. Als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) immer stärker wurde, wählten die Amerikaner in Syrien einen Verbündeten, der Ankara als Feind gilt: kurdische Milizen wie die YPG.
Die Türkei sieht die Kämpfer als Teil der Terrororganisation PKK, die bewaffnet gegen den türkischen Staat vorgeht. Einst initiierte Erdogan einen Friedensprozess – sein Verhandler: Hakan Fidan –, der jedoch 2015 scheiterte. Seither führte Ankara mehrere Militäroperationen gegen kurdische Milizen in Nordsyrien durch. Bei den Lagebesprechungen zum Stand der Militäroffensiven war Fidan stets zugange.
Mittlerweile sucht die Erdogan-Regierung die Wiederannäherung an Damaskus und Assad – und wieder steht Fidan im Zentrum der Geschehnisse. Ende April war er in Moskau zu einem Treffen der Verteidigungsminister und Geheimdienstchefs der Türkei, Russlands, Syriens und des Iran. Der Assad-Verbündete Putin vermittelt in der Frage.
Fidan gilt nicht nur als Strippenzieher in Syrien, sondern auch in den Konflikten in Libyen und im Kaukasus, wo die Türkei Einfluss ausübt. Er spielte außerdem eine Rolle bei der Kontaktaufnahme zwischen der Türkei und Ländern, zu denen die Beziehungen eingefroren waren, etwa zu einigen Golfstaaten, Ägypten und Israel.
Der Putschversuch im Jahr 2016 von Teilen des türkischen Militärs war eine Zäsur. Ankara machte die religiöse Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, zu welchem Zeitpunkt der Geheimdienst – und Erdogan – von den Putschplänen erfahren hat. Die Opposition wirft der Regierung vor, im Vorfeld Bescheid gewusst zu haben. Einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss blieb Fidan fern. Der Geheimdienst begann, massenhaft Gülen-Anhänger aus dem Staatsapparat zu entfernen. Dabei wurden nicht nur mutmaßliche Putschisten, sondern auch Kritiker Erdogans verhaftet – im In- wie Ausland. Fidan habe „dutzende Menschen aus verschiedenen Ländern entführen“ und in die Türkei bringen lassen, wo sie teils gefoltert worden seien, schrieb Nate Schenkkan von der Organisation Freedom House auf Twitter.
Selbst in Deutschland soll der MIT türkische Regierungsgegner ausgespäht haben. 2017 überreichte Fidan dem Bundesnachrichtendienstchef Bruno Kahl eine Liste mit hunderten Namen angeblicher Gülen-Anhänger. Statt die Betroffenen auszuliefern, warnten deutsche Behörden sie. Die Ernennung von Fidan zum Minister bestätigt Erdogans Kurs, der in den vergangenen Jahren eine zunehmende Distanzierung vom Westen gezeigt hat. Diese Sichtweise ist auch in Fidans Biografie angelegt. Als junger Mann studierte er die Rolle der Geheimdienste in der Außenpolitik. In seiner Masterarbeit argumentierte er, die Türkei solle auf ihre Nachrichtendienste bauen, um ihre Außenpolitik zu stärken. Die Abhängigkeit von Informationen der USA und anderer Nato-Länder dagegen bezeichnete er als Problem.
Die Türkei steht außenpolitisch vor großen Herausforderungen. Sie muss ihre Interessen zwischen dem wichtigen Wirtschaftspartner und Energielieferanten Russland auf der einen und dem Westen auf der anderen Seite besser ausbalancieren als bisher. Ein wichtiges Thema für Ankara bleibt auch die Wiederannäherung an das Assad-Regime in Damaskus. Denn dessen Zustimmung braucht Erdogan, wenn er die in der Türkei zunehmend unbeliebten syrischen Geflüchteten nach Hause schicken will. Eine der dringlichsten Fragen ist der Nato-Beitritt Schwedens, den Erdogan bisher blockiert. Davon hängt eine Wiederannäherung des außenpolitisch isolierten Landes an den Westen ab. Auch die zerrütteten Beziehungen zur EU und der Dauerkonflikt mit dem Nachbarn und Nato-Partner Griechenland sind große Baustellen.
Erdogan und sein neuer Außenminister müssen diese Probleme schnell lösen, vor allem mit Blick auf die desolate Wirtschaftslage: Das Land, das in einer tiefen Währungskrise steckt, muss das erschütterte Vertrauen der Investoren und Anleger zurückgewinnen. Dafür soll vor allem der neue Finanzminister Mehmet Simsek sorgen. Aber auch die Außenpolitik wird dabei eine Schlüsselrolle spielen.
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