Im Nahen und Mittleren Osten stehen die Zeichen plötzlich ganz asynchron auf Entspannung. Da, wo vor kurzem noch Todfeinde einander gegenüberstanden, ist nun Pragmatismus eingekehrt. Versöhnung über Versöhnung feiern einst befeindete Rivalen. Recep Erdogan und Mohammed bin Salman, Ägyptens Präsident Sisi und der Emir von Katar, der türkische und der israelische Präsident, Abu Dhabi und Teheran – selbst dem Schlächter von Damaskus, den ein Jahrzehnt lang der Bannstrahl traf, werden die roten Teppiche wieder ausgerollt. Die jüngste Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien, den beiden hegemonialen Gegenpolen, deren Feindschaft die Region in Atem gehalten hat, ist die Krönung dieses Prozesses. Es wäre, so sie denn gelingt, gleichzeitig Chinas weltpolitisches Meisterstück. Der endgültige Beweis, dass das Reich der Mitte global auf Augenhöhe mit Washington spielt.
Am 14. September 2019 attackierte ein Schwarm von Raketen und Drohnen wichtige Ölförderanlagen und Raffinerien in Saudi-Arabien. Die Spannungen zwischen dem wahhabitischen Königreich und der schiitischen Führungsmacht Iran waren zu dieser Zeit enorm. Hardliner in Teheran hatten offenkundig befohlen, ein Zeichen der Stärke zu senden. In Washington zeigte der amerikanische Präsident Donald Trump wenig Lust, sich in militärische Konfrontationen verwickeln zu lassen. Am wenigsten in der arabischen Welt.
Der 14. September 2019 ist kein Tag, der zwischen dem Mittelmeer und dem Golf bedeutungsschwere Assoziationen weckt. Und doch ist er eine wichtige Wegmarke. Die arabische Führungsmacht Saudi-Arabien musste zwei bittere Lektionen lernen: eine über die eigene Verwundbarkeit. Eine andere darüber, dass Washington auch bei einer Politik des maximalen Drucks auf Iran nur minimalen Schutz bietet. Dies haben auch die Nachbarn der Region erkannt.
Im Mittleren Osten steht das Rapprochement vor allem für die De-Ideologisierung in den Außenbeziehungen. Zwölf Jahre nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings ist Ruhe eingekehrt. Eine trügerische, eine Friedhofsruhe. Denn die Autokraten, die jetzt Frieden schließen, sind übriggeblieben. Die einstigen Herausforderer der bleiernen autokratischen Herrschaft – die jungen, liberalen, ehrgeizigen Demokraten genauso wie die düstere, aber nicht minder dynamische Kraft des politischen Islams – sind ausgelaugt. Nicht selten wurden ihre Protagonisten aus der Region vertrieben oder unterdrückt, sind in den Kerkern oder tot. In Tunesien wird das letzte bisschen Demokratie gerade beerdigt, auch die Regierung im (noch) demokratischen Israel sägt am Ast der Rechtsstaatlichkeit. Währenddessen zeigt das brutale Regime in Teheran, dass es mehr braucht als nur Straßenproteste, um eine Diktatur zu beseitigen.
Heute ist die Region von einem Umbruch erfasst, der Folge der Erfahrungen der vergangenen Jahre ist. Die Akteure am Golf wollen vor allem eines: Ruhe nach außen, um ihre Energie auf die Umwälzungen im Inneren richten zu können. So arbeiten Riad und Teheran daran, die zerstörerische Kraft ihres Antagonismus einzuhegen.
Zugleich sind Saudi-Arabien und andere Golfmonarchien dabei, ihre strategischen Beziehungen zu diversifizieren. Allein auf den Westen zu setzen hat sich nicht ausgezahlt. Das zeigt schon das Schicksal der Verbündeten des Westens in Ländern wie Syrien, dem Irak oder Libanon, wo Vasallen Irans Oberwasser haben.
So ist es womöglich gerade der Rückzug der Amerikaner, der die Entspannung im Mittleren Osten erst möglich machte. Der Iran wiederum ist eine Realität, die sich nicht wegwünschen lässt. Eine Macht an der Schwelle zur Atombombe, die man besser nicht zum Feind hat, gerade in Zeiten des zunehmenden Antagonismus mit dem Westen. Denn die amerikanischen Basen im Golf liegen unglücklicherweise unmittelbar in Irans Nachbarschaft, wo Teheran als Antwort auf mögliche israelisch-amerikanische Luftangriffe zurückschlagen könnte.
Aber auch für den Iran ist die Umarmung des ehemaligen Erzfeindes eine Einsicht in realpolitische Notwendigkeiten. Washingtons Politik des „maximalen Drucks“ hat dem Regime mehr zugesetzt, als es bereit ist, zuzugeben. Die beispiellos radikale jüngste Protestwelle war für die Machthaber auch deshalb so gefährlich, weil sie sich über die ohnehin regimefeindlich gesinnten Bevölkerungsteile hinausbewegte. Die jahrelange ökonomische Sanktionsmisere hat die Unterstützung durch die traditionellen Trägerschichten erodiert. Die Islamische Republik braucht wirtschaftlich wieder Luft zum Atmen, will sie ihre hochrisikoreiche Außenpolitik fortsetzen. Der Frieden in der Region ist somit gerade die Voraussetzung, die Auseinandersetzung mit dem Westen auf globaler Ebene durchzuhalten.
Das NATO-Staatsoberhaupt Erdogan trifft Putin auf dessen erster Auslandsreise nach Kriegsausbruch – ausgerechnet in Teheran. Die saudische Regierung stimmt die Regulierung der Ölförderquoten im OPEC-plus-Kartell zuvor mit Moskau ab. Von einer Isolation Russlands ist im Mittleren Osten nichts zu merken. Geradezu töricht wäre es, wenn der Westen von den Machthabern erwarten würde, dass sie sich im Falle einer Konfrontation mit China ganz anders verhielten. Machtpolitisch lässt sich konstatieren, dass die Regierungen der großen Regionalstaaten fast allesamt, und jenseits der ökonomischen Kollateralschäden, die Teile ihrer Bevölkerungen zu erleiden haben, zu den einstweiligen Gewinnern der neuen Epoche gehören.
Friedhofsruhe nach innen, Aussöhnung mit den Rivalen und ein Streben in die globale Arena – dieser Dreiklang produziert vorerst noch kein stabiles Gleichgewicht. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Keiner der den Arabischen Frühling einst begründenden Grundwidersprüche ist gelöst. Jenseits des im Geld schwimmenden Golfs ist es vor allem die sozioökonomische Perspektivlosigkeit, die vielerorts eine politische Konsolidierung gefährdet. Die iranische Revolte ist nur die jüngste, die vorerst unter dem Gewicht der Repression gebrochen wurde. Sie wird nicht die letzte sein.
Der Westen sollte nicht nur wegen des eigenen Bedeutungsverlustes mit großer Sorge auf die Neuordnung der Verhältnisse östlich des Mittelmeeres blicken. Denn der Prozess wird angeführt von Autokraten und zielt auf den Erhalt autoritärer Systeme. Viele der nahöstlichen Zweckarrangements sind nicht nur pragmatisch, sondern auch zynisch. Sie zielen darauf, die Konflikte in der Region irgendwie ruhigzustellen, und nicht darauf, sie zu lösen.
Das beste Beispiel ist der außenpolitische Triumphzug von Baschar al-Assad. Gerade war der saudische Außenminister zu Gast beim syrischen Gewaltherrscher, der lange aus dem Kreis der arabischen Autokraten ausgestoßen war. Für Saudi-Arabien ist es attraktiv, die Rehabilitierung von Teherans syrischem Schützling gegen eine Deeskalation im benachbarten Jemen einzutauschen, wo Iran die Huthi-Rebellen fördert. Syrien rangiert längst nicht mehr weit oben auf der Prioritätenliste saudischer Außenpolitik. Für den Westen und gerade für Europa ist es ein schädlicher Handel.
Es wird nicht nur ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, wenn ein Massenmörder, der Giftgas gegen Zivilisten eingesetzt hat, an Konferenztischen sitzt und nicht auf einer Anklagebank. Es wird auch ein Regime gefestigt, das die Wurzel des syrischen Unheils ist; das die Menschen, die es vertreibt, benutzt, um Europa zu erpressen; dessen Geheimdienste nicht davor zurückschrecken, mit islamistischen Terroristen zu kooperieren. Von einer Aufwertung profitieren allein der syrische Diktator und seine Schutzherren in Moskau und Teheran.
Überdies bleibt der Iran das größte Risiko für den so zerbrechlichen wie oberflächlichen Frieden. Es sind gerade merkwürdig asynchrone Entwicklungen, die eine kaum zu durchbrechende Eskalationsdynamik begründen. Die innenpolitische Fragilität des Regimes kontrastiert mit dem großen außenpolitischen Selbstbewusstsein. Die Annäherung an die Rivalen in der Region mit einem immer stärkeren Antagonismus gegenüber dem Westen. Auch wenn beide Seiten einen ganz großen Konflikt vermeiden wollen, ist derzeit unklar, wie ein politischer Ausstieg aus der Eskalationsspirale noch gelingen kann. Wo wäre ein stabiler Landungspunkt, an dem sich ein neues Atomabkommen stabilisieren ließe? Ein Abkommen, das dafür sorgte, dass der de facto nukleare Schwellenstaat die letzte Schwelle nicht noch überschreitet. Zudem in einer Lage, in der Russland keine konstruktive Rolle mehr spielen möchte.
Dem iranischen Regime spielt die Deeskalationssehnsucht in der Region auch an einer anderen Front in die Hände: an der seines Schattenkrieges mit Israel. Eine gegen Iran gerichtete Allianz mit Israel und von Washington flankiert, rückt jetzt, da sich Teheran und Riad annähern, in weitere Ferne. Iran ist in der komfortablen Lage, die Konfrontation mit den arabischen Golfstaaten deeskalieren, zugleich den Konflikt mit Israel und den Vereinigten Staaten befeuern zu können – und auf diese Weise die Spaltung zwischen den arabischen Monarchen am Golf und Washington noch zu vergrößern.
Noch ist die Region dem Westen nicht entglitten. Die Zeitenwende im Nahen und Mittleren Osten und damit in der Nachbarschaft Europas sollte er nicht verschlafen. Wer eine Neuordnung unter autokratischen und antiwestlichen Vorzeichen verhindern will, wird auch hier um eines nicht herumkommen: maximales Engagement.
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