Der Termin war schon lange fixiert: Die Reise des Emirs von Katar nach Deutschland. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel hatte er natürlich eine ganz andere Bedeutung bekommen. Der deutsche Regierungschef hatte den Emir letztes Jahr in Doha besucht, um über Lieferungen von verflüssigtem Erdgas (LNG) zu sprechen. Einen Vertrag allerdings gab es erst Monate später – und LNG von 2026 an.
Auch diesmal baten der deutsche Kanzler und seine Außenministerin den Herrscher des kleinen Golfstaates um Hilfe: für die von den Hamas-Terroristen in den Gazastreifen verschleppten deutschen Staatsbürger. Katar hat seit Jahren enge Kontakte zu der Terrortruppe, die den gesamten Gaza-Streifen kontrolliert und auch in Geiselhaft genommen hat. Der Wüstenstaat verfügt zudem über ausreichend Vertrauen der israelischen Regierung, die darauf hofft, dass qatarische Vermittler bei der Befreiung der von den Islamisten festgehaltenen Geiseln helfen können. Mittlerweile jedoch wächst in Israel die Kritik an Katar. Mehrere Experten warfen dem Emirat vor, es habe zwar geholfen Gaza wiederaufzubauen, in Wirklichkeit aber vor allem die Hamas aufgerüstet.
Die politische Führung der Hamas, das 15-köpfige Politbüro unter Vorsitz von Ismail Hanija, residiert seit 2012 in Doha, längst in stattlichen Villen, finanziert vom Emir. Als der eigentliche Anführer der 1987 von der Muslimbruderschaft gegründeten Gruppe gilt aber Jahia Sinwar, der 24 Jahre seines Lebens in israelischen Gefängnissen saß. Er ist der wichtigste Verbindungsmann zum militärischen Arm, den Kassam-Brigaden unter dem Kommando von Mohammed Deif. Allein sie sollen etwa 100 Menschen verschleppt haben, womöglich auch einige mehr. Terroristen des Islamischen Dschihad, einer maßgeblich von Iran unterstützten kleineren militanten Gruppe aus dem Gazastreifen, beanspruchen für sich, 30 weitere Geiseln genommen zu haben. Zudem hat Katar seit dem Gaza-Krieg im Jahr 2012 große Summen in die seit 2007 von der Hamas autoritär beherrschte palästinensische Exklave am Mittelmeer investiert, zunächst für den Wiederaufbau und für Hilfsgüter. Von 2018 an subventionierte das Emirat mit 30 bis 40 Millionen Dollar pro Monat den Gazastreifen, zu etwa gleichen Teilen zahlte es Gehälter von Regierungsangestellten der Hamas, gab 100 000 mittellosen Familien 100 Dollar Stütze und beglich die Rechnungen für das mit Diesel betriebene einzige Kraftwerk in dem Gebiet, in dem nach UN-Angaben 2,1 Millionen Menschen auf 360 Quadratkilometern leben.
Die deutsche Außenministerin Baerbock hatte direkt im Anschluss an ihr Gespräch mit dem katarischen Herrscher die Erwartungen gedämpft: Sie maße sich nicht an, von außen zu sagen, dass man eine Lösung habe, sagte sie. Die Bundesregierung könne nur gemeinsam mit der israelischen Regierung und anderen Partnern vorgehen. Das werde auch Thema in den Gesprächen mit dem Emir sein, so Baerbock. Nicht nur Deutschland, auch die USA hatten Katar gebeten, in der Geiselfrage zu vermitteln. „Katar hat Zugänge zur Hamas, die wir sicher nicht haben und auch die Israelis nicht haben“, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates im Weißen Haus. Das Bundeskanzleramt teilte mit, das Schicksal der von der Hamas verschleppten Geiseln, darunter auch deutsche Staatsangehörige, sei ein Schwerpunkt des Gesprächs mit dem Emir gewesen. Scholz habe unterstrichen, dass die Hamas die volle Verantwortung für das Wohlergehen der Geiseln habe.
Die finanzielle und logistische Unterstützung der islamistischen Terroristen bringt Katar oft den Vorwurf ein, den Terror der Hamas zu sponsorn. Allerdings brachten Emissäre des Emirs das Geld mit Billigung der israelischen Regierung in den Gazastreifen – sie flogen mit Koffern voller Dollarnoten über den Ben-Gurion-Flughafen von Tel Aviv ein und passierten die Grenze in das Palästinensergebiet, das die israelische Armee 2005 komplett geräumt hatte, am offiziellen Übergang Erez. Vor allem Premierminister Benjamin Netanjahu versprach sich davon, zu einem gewissen Grad wirtschaftliche Stabilität im Gazastreifen zu schaffen und so die Hamas ruhigzustellen – andere Politiker kritisierten diese Taktik scharf. Immer wieder kam es nach militärischen Auseinandersetzungen dazu, dass die Zahlungen ausgesetzt wurden, zeitweise wurden sie ohne Bargeld abgewickelt.
Der Emir sieht sich aber auch international mit der Frage konfrontiert, wie er nach dem Massaker der Hamas an mehr als 1.000 Zivilisten das Verhältnis zur Hamas künftig gestalten will. Die in Doha lange verbreitete Einschätzung, die Hamas sei eine im Grunde pragmatische Organisation, hat sich durch das Blutbad als tödlicher Fehler erwiesen.
In seiner ersten Stellungnahme hatte das Außenministerium in Katar allein Israel für die Eskalation der Gewalt verantwortlich gemacht wegen seiner „anhaltenden Verletzungen der Rechte des palästinensischen Volkes“ und israelischer Polizeieinsätze in der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem – was wiederum Fragen aufwirft, ob der Emir nicht nur Mittler ist, sondern die Ideologie der Hamas teilt. Als das Ausmaß der Gräueltaten klarer erkennbar wurde, ruderte die vom Emit kontrollierte Regierung zurück.
Die Vermittlungsversuche zur Befreiung der entführten israelischen Frauen, Männer und Kinder dürften das wichtigste Argument sein, die Hamas-Führung vorerst nicht aus der Wüste hinauszuwerfen: Jeder auch nur kleine Erfolg könnte den internationalen Druck auf Katar mildern, das Emirat könnte sogar davon langfristig profitieren. Das Außenministerium in Doha ließ Bemühungen publik werden lassen, einen Austausch der in den Gazastreifen entführten Frauen und Kinder gegen 36 in Israel einsitzende Palästinenserinnen zu verhandeln, deren Freilassung Hamas zu erpressen versucht.
Es ist also ein schmaler Grad, auf dem Katar gerade wandelt. Nicht nur die langjährige Unterstützung der islamistischen Muslimbruderschaft hat das Ansehen des Emirats nicht nur bei den Regierungen anderer arabischer Staaten nachhaltig gestört, der offensichtliche Kontakt zum Terrorarm Hamas tat sein Übriges. Bei internationalen Verhandlungen mit den Taliban spielte das Emirat eine ebenso wichtige Rolle, da in Doha auch führende Vertreter der afghanischen Islamisten Unterschlupf fanden, bevor sie wieder das Sagen in Kabul haben. Doha weiß also um seine Rolle auf der internationalen Bühne, trotz offensichtlicher Kritik aus dem Westen. Das Emirat weiß nämlich, ähnlich wie der andere Hamas-Unterstützer Erdogan in der Türkei, dass die Propaganda-Schlacht um die Situation in Gaza und darüber hinaus gerade innerhalb der islamischen Welt über die Bevölkerung gewonnen werden wird. Und hier punkten die Hamas-Sponsoren gerade, und nicht die Regierungen in Kairo, Amman, Abu Dhabi oder Riad.
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research Center vorbehalten.