Während das Europäische Parlament am heutigen Mittwoch einen Nachfolger für die abgesetzte Vizepräsidentin Eva Kaili wählen wird, beste Chancen hat der luxemburgische Sozialdemokrat Marc Angel, und die Präsidentin des Hauses erste Vorschläge unterbreitet hat, wie in Zukunft Lobbytätigkeiten und Korruption verhindert werden können, geht die juristische Aufarbeitung des wohl größten Skandals in der Geschichte des Europäischen Parlaments weiter.
Die Präsidentin des Europäischen Parlaments Roberta Metsola hat erste Vorschläge vorgestellt, welche Korruption, Bestechung und Einflussnahme in Zukunft verhindern sollten. Dieser Katalog wurde zunächst intern mit den Sprechern der neun politischen Gruppen im Parlament diskutiert, mit einer schnellen Umsetzung ist allerdings nicht zu rechnen. Insider gehen davon aus, dass diese Monate dauern könnte. Im Mittelpunkt der Vorschläge steht der Vorschlag, dass alle Abgeordneten, Assistenten oder Beamten dazu verpflichtet werden offenzulegen, mit wem sie sich treffen, wenn sie über die laufende Gesetzgebungsarbeit diskutieren, unabhängig davon, ob diese Treffen in parlamentarischen Räumlichkeiten stattfinden oder nicht. Dies wäre eine bedeutende Änderung – derzeit sind nur Berichterstatter oder Ausschussvorsitzende verpflichtet, solche Gespräche offenzulegen. Auf Basis dieses Vorschlages werden EU-Beamte stichprobenartige Kontrollen von Gruppen, Institutionen und NGOs durchführen, die sich in das Transparenzregister eintragen müssen. Auch wer Nicht-EU-Staaten vertritt, muss künftig in das Transparenzregister aufgenommen werden, um Lobbyarbeit leisten zu können. Aber nicht nur bei den Abgeordneten wird es mehr Kontrolle geben, sondern auch bei deren Assistenten und Parlamentsbeamten. Diesen soll untersagt werden, gleichzeitig Führungspositionen bei NGOs zu bekleiden.
Die juristische Aufarbeitung ist derweil auch fortgeschritten: Der frühere Europaabgeordnete Pier Antonio Panzeri, der als Schlüsselfigur im Skandal um Bestechungsgelder aus Katar gilt, hat sich gestern dazu verpflichtet, mit der belgischen Justiz vollumfänglich zusammenzuarbeiten und sowohl über eigenes Fehlverhalten als auch über jenes anderer Beschuldigter auszusagen. Mit dieser Kronzeugen-Regelung wird ihm zugesichert, dass ihm die Zusammenarbeit strafmildernd ausgelegt wird. Er muss also auch die Wahrheit über Eva Kaili sagen, die im Verdacht steht, als Vizepräsidentin des Parlaments gegen Geld die Interessen von Katar vertreten zu haben. Panzeri, so heißt es in der Mitteilung der Staatsanwaltschaft, müsse im Gegenzug nur „verkürzt“ ins Gefängnis. Er wird eine Geldstrafe zahlen müssen, außerdem sollen seine gesamten erworbenen Vermögenswerte eingezogen werden, die derzeit auf eine Million Euro geschätzt werden. Die strafmildernde Regelung kommt erst zum zweiten Mal in der belgischen Justizgeschichte zur Anwendung und wird „Pentiti“ genannt – in Anlehnung an das gleichnamige italienische Gesetz, das in Mafia-Verfahren die Mitwirkung von „Reumütigen“ belohnt.
Die belgische Justiz, aber auch die europäische Öffentlichkeit kann nun darauf hoffen, dass Panzeri bei seinen zukünftigen Aussagen gezwungen ist, das gesamte Ausmaß von Bestechung, Korruption offenzulegen und Namen zu nennen, welche Politiker auf europäischer Ebene die Hand aufgehalten haben für den Wüstenstaat Katar: Gemäß der jetzt getroffenen Vereinbarung verpflichtet sich Panzeri, den Ermittlern umfassende Informationen zu geben über den Modus Operandi seiner Taten, über die finanziellen Vereinbarungen mit Drittstaaten, über die eingerichteten Finanzkonstruktionen sowie über deren Nutznießer. Er muss aussagen „über die Beteiligung von bekannten oder noch nicht bekannten Personen in diesem Fall, einschließlich der Identität der Personen, die er zugibt, bestochen zu haben“.
Pier Antonio Panzeri hat am Dienstag seinen Antrag auf Entlassung aus der Untersuchungshaft zurückgezogen. In U-Haft sitzt auch weiterhin Eva Kaili. Sie leugnet den Vorwurf der Bestechlichkeit und gibt alle Schuld ihrem Lebensgefährten Francesco Giorgi.
Aber auch im Europäischen Parlament bleibt es nicht still: Die Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte Maria Arena ist von ihrem Amt zurückgetreten. Hätte sie dies nicht getan, hätte die Konferenz der Fraktionsvorsitzenden ein förmliches Abwahlverfahren eingeleitet, wie zuletzt gegen Vizepräsidentin Eva Kaili. Auch bei Arena geht es bei dem Skandal um Einflussnahme durch Qatar und Marokko, der das Parlament seit einem Monat erschüttert.
Im Mai hatte Arena an einer Konferenz über Menschenrechte in Doha teilgenommen, Flüge und Hotel ließ sie sich vom Emir Katars bezahlen. Dies Information wurde erst letzte Woche öffentlich, die Ausschuss-Vorsitzende hatte es der Parlamentsverwaltung nicht gemeldet. Zunächst machte sie ihre Sekretärin für den Regelverstoß verantwortlich und warb in einer Mail an ihre Fraktionsgenossen um Verständnis. Das aber wollte niemand mehr aufbringen. Denn die Autorität der 56 Jahre alten Politikerin aus Belgien war schon in den vorigen Tagen erschüttert worden, als immer neue Details aus den Ermittlungen bekannt wurden.
„Ich erkläre klar und deutlich, dass ich in keinerlei Weise in diesen Skandal verwickelt bin“, beteuerte Arena in ihrer Rücktrittserklärung. Weder hätten die belgischen Behörden die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität beantragt noch ihr Büro oder ihre Wohnung durchsucht. Ihr Fall ist ebenso wichtig wegen ihrer Funktion als Vorsitzende eines Ausschusses, der im Zentrum des katarischen Interesses stand sowie wegen ihrer Nähe zu Pier Antonio Panzeri. Arena übernahm nämlich vom Hauptbeschuldigten Panzeri den Vorsitz im Ausschuss. Beide stehen politisch am linken Rand ihrer Fraktion. Arena lud Panzers NGO „Fight Impunity“ ein, dort einen Jahresbericht zum „Stand der Straflosigkeit in der Welt“ vorzustellen. Mit Panzeri trat sie mehrmals bei Diskussionsveranstaltungen auf. Mitte November vorigen Jahres leitete sie eine Anhörung zum Stand der Menschenrechte in Katar. Als der Korruptionsskandal im Dezember vorigen Jahres öffentlich wurde und die Ermittler auch das Ausschuss-Sekretariat durchsuchten, erklärte Arena, dass sie mit dem Fall nichts zu tun habe, aber bis auf Weiteres keine Sitzungen mehr leiten werde. Nach ihrer Beziehung zu Panzeri gefragt, antwortete sie, es handle sich um eine „berufliche Freundschaft“.
Verschiedene Recherchen von belgischen Journalisten sollen nun belegen, dass die beiden eine Affäre gehabt hätten, die über Jahre gegangen sei, mindestens bis 2019, wahrscheinlich noch darüber hinaus. „Man musste schon blind sein, um das nicht zu sehen“, sagte einer von ihnen. „Sie kamen morgens zusammen, und sie gingen abends zusammen.“ Im Ausschuss sei die Beziehung ein „offenes Geheimnis“ gewesen, berichtete eine Abgeordnete. Arena ist geschieden, Panzeri verheiratet. Staatsanwaltliche Untersuchungen zeigen zudem, dass Panzeri und Arena in neun Monaten 389 telefonische Kontakte hatten. „Maria Arena profitiert vom Rat und Einfluss Panzeris, während dieser die Position Arenas als Präsidentin des Unterausschusses für Menschenrechte im Parlament nutzt, um Einfluss zu nehmen“, schrieben die Staatsschützer.
Wie das konkret geschah, lässt sich an der Anhörung zur Lage der Menschenrechte in Qatar erkennen, die am 14. November im Parlament stattfand. Dazu waren Vertreter von Human Rights Watch und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) geladen. Außerdem der internationale Gewerkschaftsbund, dessen Generalsekretär Luca Visentini jetzt ebenfalls zu den Beschuldigten gehört. Er hatte Geld von Panzeri angenommen, um seinen Wahlkampf für diesen Posten zu finanzieren. Der wichtigste – und überraschendste – Teilnehmer aber war Ali bin Samikh Al Marri, Qatars Arbeitsminister. Von dessen Besuch hatten die Abgeordneten erst sechs Tage vorher erfahren, als sie die Tagesordnung bekamen. Arena hatte ihn eigenhändig eingeladen.
Tatsächlich war sein Auftritt aber langfristig vorbereitet worden, wie „Le Soir“ anhand von Ermittlungsunterlagen rekonstruiert hat. Demnach trafen sich Panzeri und Al-Marri schon einen Monat zuvor in einem Brüsseler Luxushotel, um eine Strategie festzulegen. Panzeri verließ das Treffen mit einem Beutel in der Hand. Nach Aussage des Lebensgefährten von Eva Kaili, Francesco Giorgi, einem anderen Beschuldigten, der dabei war und stets für Panzeri ins Englische übersetzte, wurde „Bezahlung in bar“ vereinbart. Als der Minister aus Katar dann vor den Europaabgeordneten saß, hatte ihm Panzeri das Eingangsstatement und Antworten auf mögliche Fragen aufgeschrieben. Auch die überließ er nicht dem Zufall.
So hatte Giorgi die Abgeordneten der Sozialdemokraten mit einem wohlwollenden Vortrag über die Lage in Katar vorbereitet. Er saß während der Anhörung im Saal und tippte viel auf seinem Mobiltelefon herum: Nachrichten mit Panzeri, welche die Ermittler mitlasen. Der EU-Abgeordnete Tarabella solle sagen, dass er das Interesse an Menschenrechten vor vier Jahren nicht gesehen habe, als die Fußball-WM in Russland stattfand, schlug Panzeri vor. Sieben Minuten später meldete sich der Abgeordnete zu Wort und ließ sich über die Scheinheiligkeit seiner Kollegen aus. Anschließend übernahm Arena das Wort und bat den Minister, europäische Unternehmen zu nennen, die gegen katarische Regeln verstießen – was den Fokus ganz im Sinne Al-Marris verschob.
Die Anhörung floss dann in eine Entschließung des Parlaments zur Lage der Menschenrechte in Katar ein. Die wurde beschlossen, als die WM schon lief, und fand große Aufmerksamkeit. Darin wurde die FIFA mit Kritik überschüttet, während das Emirat vergleichsweise gut wegkam. Die Abgeordneten „bedauern“ den Tod Tausender Arbeitsmigranten auf WM-Baustellen, während sie die Beteiligung von europäischen Unternehmen an Verstößen „aufs Schärfste verurteilen“. Mehrfach „begrüßen“ sie Reformen des Emirats und seine Zusammenarbeit mit der EU bei Menschenrechten, insbesondere die Bemühungen Al-Marris. Mit dem Wissen von heute liest sich das über weite Strecken so, als habe Panzeri den Text redigiert.
Tatsächlich war das die Aufgabe eines anderen Fraktionsmitarbeiters der Sozialdemokraten. Dieser schrieb den Entschließungsantrag, der in nur zwei Tagen verhandelt wurde. Die anderen Fraktionen baten ihn darum, nachdem die Sozialdemokraten bei den Verhandlungen das Zünglein an der Waage waren und etliche kritische Änderungsanträge von Linken und Grünen abgewiesen hatten. Ob Arena dabei im Hintergrund eine Rolle spielte, ist ungewiss. Der Rolle des Fraktionsmitarbeiters gingen die Sozialdemokraten jedoch genauer nach, als der Skandal bekannt wurde. Kurz vor Weihnachten entbanden sie den Assistenten.
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research and Study Center vorbehalten.