Im Dezember 2023 kam die Korruptionsaffäre ans Licht, die dem Ruf der europäischen Demokratie schweren Schaden zufügte. Mehrere Europaabgeordnete hatten sich mutmaßlich schmieren lassen, um die Politik der EU im Sinne von Katar und Marokko zu beeinflussen, darunter die Griechin Eva Kaili, eine stellvertretende Vorsitzende des Europaparlaments. Die belgische Regierung feierte den Fall damals als Triumph seiner Sicherheitsbehörden. Doch nun entwickelt sich der Fall immer mehr zu einem belgischen Trauerspiel.
Es werden nun Monate vergehen, bis die Stellungnahme des parlamentarischen Kontrollgremiums (Comité R) vorliegt. Es ist von internen Skandalen erschüttert, das Führungspersonal wurde gerade ausgetauscht. Seit Mai wird das Ermittlungsverfahren der belgischen Bundesanwaltschaft von der Anklagekammer des Brüsseler Straftribunals überprüft – auf Antrag der Beschuldigten. Sie machen schwere Rechtsverletzungen geltend. Nun hat die Kammer eine erste Entscheidung getroffen. Das Kontrollgremium der Geheimdienste im belgischen Parlament muss in einem schriftlichen Gutachten darlegen, ob der Inlandsgeheimdienst seine Erkenntnisse in diesem Fall auf rechtmäßige Weise erlangt hat. Sie gab damit einem Antrag des früheren italienischen Abgeordneten Andrea Cozzolino statt. Dessen Anwalt Dimitri de Beco sprach von einer „beispiellosen Entscheidung“, mit der das Gericht anerkannt habe, dass Zweifel an der Rolle des Dienstes berechtigt seien.
Der Fall war ins Rollen gekommen, nachdem die Sûreté de l’Etat, wie der belgische Verfassungsschutz heißt, 2021 Hinweise mehrerer befreundeter Nachrichtendienste bekommen hatte. Im Frühjahr 2022 drangen Mitarbeiter in die Brüsseler Wohnung des Lobbyisten Panzeri ein und fanden dort 700.000 Euro in bar, was den Verdacht gegen ihn erhärtete. Sie installierten eine versteckte Überwachungskamera und verfolgten monatelang alle Kontakte des Italieners. Im Juli 2022 leitete die Bundesanwaltschaft dann ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer kriminellen Organisation ein. Fünf Monate später schlugen die Ermittler zu und nahmen sowohl Panzeri als auch Kaili, ihren Lebensgefährten Francesco G., den belgischen Abgeordneten Marc Tarabella sowie Cozzolino fest.
Cozzolinos Anwalt de Beco argumentiert, dass die Justiz zu spät eingeschaltet worden sei und der Verfassungsschutz parallel weiter ermittelt habe. „Neunzig Prozent“ der Verdachtsmomente in den Akten stammten vom Verfassungsschutz, dessen Erkenntnisse keine rechtlich zulässigen Beweise sind. Man könne deren Erhebung nicht einmal überprüfen. So dürften Anwälte den Mitschnitt eines abgehörten Telefonats nur dann anhören, wenn die Überwachung gerichtlich angeordnet worden sei. Außerdem habe der Verfassungsschutz gegen die Immunität seines Mandanten verstoßen. Falls die Kammer dieser Auffassung folgt, müsste sie alle Beweismittel aus der Akte entfernen, die nicht zweifelsfrei rechtmäßig seien. Ob dann noch genug belastbares Material für einen Strafprozess übrig bleibt, ist fraglich.
Alle Verdächtigen sind längst wieder auf freiem Fuß. Im Sommer wurden ihnen auch die letzten Einschränkungen erlassen, etwa für Reisen ins Ausland. Dem neuen Europäischen Parlament gehören sie nicht mehr an. Kaili etwa hat in Mailand ein „Zentrum für künstliche Intelligenz“ mitbegründet. Auch sie wehrt sich gegen die Ermittlungen und sieht ihre parlamentarische Immunität verletzt. Polizeibeamte waren in ihre Wohnung eingedrungen, nachdem ihr Vater einen Koffer voller Bargeld abtransportiert hatte. Der Untersuchungsrichter wertete dies als Vertuschungsversuch, bei dem Kaili auf frischer Tat ertappt worden sei – deshalb habe sie ihre parlamentarische Immunität verwirkt. Die Beamten fanden in der Wohnung weitere 150.000 Euro in bar in zwei Tresoren und Taschen. Kaili behauptet, sie habe damit nichts zu tun gehabt, ihr Lebensgefährte habe die Taschen für den Fall eines „Atomwaffenangriffs“ in der gemeinsamen Wohnung deponiert. Vor der Untersuchungskammer argumentierte ihr Anwalt, dass die Ermittler zunächst einen Beschluss über die Aufhebung der Immunität ihrer Mandantin hätten erwirken müssen.
Kailis Lebensgefährte Francesco G. wiederum steuerte zu der Überprüfung eine Aufnahme bei, die er heimlich von einem Gespräch mit einem Polizeibeamten gemacht hatte und die von mehreren Medien veröffentlicht wurde. Darin sagte der Beamte über den Kronzeugen Panzeri: „Er lügt uns an.“ G.s Anwalt zieht deshalb die gebotene Neutralität der Ermittler in Zweifel.
Für die war es schon peinlich genug, dass sich der erste Untersuchungsrichter Michel Claise im Sommer 2023 aus dem Fall zurückzog und damit einem Befangenheitsantrag zuvorkam. Nachhaltigen Schaden hat in den Ermittlungen sein Fall zugefügt. Er galt als Belgien als absolute Koryphäe in Korruptionsfällen – musste sich dann aber von Katargate wegen eines möglichen Interessenkonflikts zurückziehen: Sein Sohn unterhielt Geschäftsbeziehungen mit dem Sohn der Europaabgeordneten Marie Arena, die wiederum eine enge Vertraute von Antonio Panzeri war. Trotz belastender Indizien hatte Claise keine Hausdurchsuchung bei seiner Landsfrau veranlasst. Die Ermittler rückten erst viele Monate später, nach dem Abschied von Claise, bei Marie Arena an. Es wirkte wie ein Eingeständnis von früheren Versäumnissen. Ein Sohn des Richters betreibt ein gemeinsames Unternehmen mit dem Sohn einer weiteren Verdächtigen, deren Privaträume zunächst nicht durchsucht worden waren. Auch dies ist Teil der Überprüfung durch die Anklagekammer. Immerhin konnte Claises Nachfolgerin im August einen Befangenheitsantrag gegen sich abwehren. Alles in allem ist jedoch der Eindruck entstanden, dass die Ermittler nachlässig vorgingen – was gerade angesichts der Schwere des Falls erstaunt. Die Beschuldigten wiederum werden inzwischen von einigen der besten Strafverteidiger des Landes vertreten. Die haben die Überprüfung erwirkt und sehen sich jetzt in der Offensive.
Einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit hat die Staatsanwaltschaft in diesem Fall ohnehin bereits eingestellt: die Ermittlungen in Sachen Marokko. Über zwei marokkanische Mittelsmänner soll Geld an den korrupten Brüsseler Zirkel um Antonio Panzeri geflossen sein. Es handelt sich um Abderrahim Atmoun, aktuell Marokkos Botschafter in Polen, und einen marokkanischen Auslandsagenten namens Mohamed Belharache. Nun allerdings liegen die Ermittlungen ganz in marokkanischer Hand – und das unter merkwürdigen Umständen.
Wie die belgische Zeitung Le Soir enthüllte, veranlasste die belgische Staatsanwaltschaft am 12. April dieses Jahres, den Fall an die marokkanischen Behörden abzugeben. Nur drei Tage später, am 15. April, machte sich eine große belgische Regierungsdelegation unter Leitung von Ministerpräsident Alexander De Croo auf den Weg nach Rabat, um mit der marokkanischen Regierung eine umfassende Zusammenarbeit in Fragen von Migration und Sicherheit zu vereinbaren. Marokko erklärte sich bereit, Staatsbürger, die sich ohne Papiere in Belgien aufhalten, wieder zurücknehmen. Aus der belgischen Regierung verlautete: Es gebe selbstverständlich keinerlei Zusammenhang zwischen der politischen Vereinbarung mit Marokko und dem belgischen Entgegenkommen im Korruptionsfall.