Ein Blick in das Nachrichten-Programm von al-Jazeera Arabic, dem arabischsprachigen Kanal des katarischen Satellitensenders über die furchtbare Situation in Gaza: Acht Mitglieder einer palästinensischen Familie seien dort am Vortag bei einem Bombenangriff der israelischen Armee getötet worden. Hinter dem Moderator der Hauptnachrichtensendung laufen finstere Bilder von zerstörten Gebäuden in Gaza, von dem israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant und dem vermummten Gesicht des Hamas-Sprechers Abu Ubaida. Dann wird in den Küstenstreifen geschaltet, wo Menschen gezeigt werden, die durch Krankenhauskorridore rennen, Verletzte, verzweifelte Angehörige und am Ende eine Reihe von Toten, eingewickelt in weisse Tücher. Kommentiert wird der Beitrag nicht. Er wirkt dadurch roh, direkt und umso emotionaler. Immer wieder sendet al-Jazeera solche Stücke. Es sind unmittelbare Einblicke in einen brutalen Krieg.
Das TV-Magazin schaltet einen irakischen Militärexperten dazu, der gemeinsam mit einem weiteren Moderator an einem interaktiven Bildschirm den Vormarsch der israelischen Truppen in Gaza analysiert. Der palästinensische Widerstand schlage sich gut, sagt der Mann. Wer ihm zuhört, bekommt den Eindruck, Israel stünde vor einer Niederlage.
In Israel selbst sind diese Bilder inzwischen nicht mehr zu sehen. Dort ist der Sender verboten. Polizisten stürmten seine Büros in Jerusalem, wenig später verschwand al-Jazeera von den Bildschirmen und vom Netz. Der Kanal sei eine Bedrohung der inneren Sicherheit, hiess es aus Regierungskreisen. Von israelischen Journalistenorganisationen wird das Verbot kritisiert – es widerspreche der Pressefreiheit, sagen sie.
Ist der Sender wirklich eine Propagandaschleuder für die Hamas, wie die Israeli behaupten? Tatsächlich berichtet das arabische al-Jazeera so intensiv aus Gaza wie kein zweites Medium. Der Sender widmet sich nahezu ausschliesslich dem Krieg, er hat eigentlich kein anderes Thema mehr. Dabei kann er auf zahlreiche Reporter vor Ort zurückgreifen – ganz im Gegensatz zu westlichen Medien, deren Journalisten nicht in den Küstenstreifen einreisen dürfen.
Nach aussen hin gibt sich al-Jazeera betont professionell. So lässt der Sender zwar etliche Hamas-Vertreter zu Wort kommen, er sendet aber auch die Äusserungen israelischer Politiker nahezu unkommentiert. Man wolle eben einfach nur zeigen, was ist, sagen die Verantwortlichen des Senders in Doha. Doch schon bei der Wortwahl der Moderatoren zeigt sich schnell, welche Weltsicht der Sender pflegt. So wird Israels Militär konsequent „Besatzungsarmee“ genannt, die Kämpfer der Hamas und des Islamischen Jihad hingegen bilden den „Widerstand“, tote Palästinenser werden als „Märtyrer“ bezeichnet.
Wer ein paar Stunden al-Jazeera schaut, bekommt ein ziemlich eindeutiges Bild präsentiert. Da sind einerseits die Palästinenser in Gaza, deren Leiden sehr viel Platz eingeräumt wird, andererseits Israeli, die meist nur als Soldaten oder Politiker auftreten. Sie fahren entweder im Panzer durch Ruinen oder kündigen weitere Militäroperationen an. Zwar zeigt der Sender auch Bilder von den Demonstrationen gegen die Netanyahu-Regierung und widmet sich ausführlich den Problemen, mit denen Israels Wirtschaft infolge des Krieges zu kämpfen hat. Die von der Hamas in Gaza gehaltenen Geiseln oder deren Angehörige kommen jedoch kaum vor – genauso wenig wie Hamas-kritische Palästinenser.
Der Sender pflegt ein seltsames Verhältnis zum Hamas-Terror des 7. Oktober. Die Greueltaten der Hamas werden auf al-Jazeera zwar nicht geleugnet, man bekommt aber den Eindruck, dass sie eigentlich gar nicht richtig stattgefunden haben. Dazu passt auch ein Dokumentarfilm, den die vielgerühmte Investigativabteilung des englischsprachigen Schwesterkanals unlängst produziert hat: Der Film, der den Anspruch erhebt, über all das zu informieren, was am 7. Oktober vorgefallen ist, verwendet einen Grossteil seiner Sendeminuten darauf, bloss darzulegen, was nicht passiert ist: So wird das längst entkräftete Gerücht aus den ersten Kriegstagen, wonach die Hamas in einem Kibbuz angeblich 40 Babys enthauptet hat, ein weiteres Mal in aller Länge widerlegt. Zudem wird darüber spekuliert, dass Israel für viele der zivilen Toten möglicherweise selber verantwortlich sei. Wie die Hamas-Kämpfer gewütet haben, kommt hingegen nur am Rande vor. Am Ende ergibt sich daraus ein simples Bild: Ja, der 7. Oktober war schlimm – aber vieles davon ist doch bloss Propaganda, und sowieso verblassen die Untaten der Hamas im Vergleich zum Leid der Palästinenser in Gaza.
Immer wieder wird al-Jazeera deshalb Einseitigkeit und Manipulation vorgeworfen. Vertreter des Senders bestreiten das – und verweisen darauf, dass es nun mal ihre journalistische Pflicht sei, das Augenmerk in erster Linie auf die Lage der Zivilisten in Gaza zu legen, wo Zehntausende gestorben seien und eine humanitäre Katastrophe herrsche. Trotzdem erweckt die Berichterstattung den Eindruck, als stürze sich der Sender regelrecht auf Gaza und lasse dabei aus, was nicht ins Bild passt. Das ist keine Überraschung, schliesslich dürften die Verantwortlichen in Doha wissen, dass der blutige Krieg im Küstenstreifen in der arabischen Welt tiefe Emotionen weckt und einhellig auf Empörung stösst – ganz im Gegensatz zu anderen Themen.
Vor dem Krieg hatte al-Jazeera nämlich oft einen schweren Stand. So war der 1996 von der katarischen Regierung gegründete und finanzierte Sender immer wieder ins Kreuzfeuer der innerarabischen Politik geraten. Während des Arabischen Frühlings wurde ihm vorgeworfen – analog zur katarischen Politik – der Muslimbruderschaft zu viel Platz einzuräumen. Mehrere prominente Reporter verließen den Sender deshalb aus Protest. Später wurde al-Jazeera dann zur Zielscheibe der Saudis und der Emirate, die ihn als angeblichen katarischen Propagandakanal aus ihren Ländern verbannten und versuchten, ihm durch eigene Satellitenkanäle das Wasser abzugraben. An die Popularität und die Reichweite von al-Jazeera reichen diese aber bis heute nicht heran.
Denn die Katarer revolutionierten mit ihrem Satellitenkanal das Fernsehen in der arabischen Welt. Wo zuvor linientreue Moderatoren ihr Publikum mit öder Staatspropaganda langweilten, fanden mit einem Mal Debatten statt, und selbst israelische Vertreter kamen zu Wort. Davon zehrt al-Jazeera bis heute – selbst wenn der Sender mit seiner Berichterstattung auch manche Araber vor den Kopf stösst. So ärgern sich viele Liberale über den ihrer Meinung nach zu freundlichen Umgang mit Islamisten. Und eine irakische Journalistin, die früher als freie Mitarbeiterin für al-Jazeera tätig war, begründet die Beendigung ihres Engagements damit, dass der Sender die als brutale Gangs geltenden Milizen in ihrem Land seit Beginn des Gaza-Krieges als „Widerstandskämpfer“ bezeichne – nur weil sie gegen Amerika kämpften.
Dem Erfolg von al-Jazeera tut das keinen Abbruch. Inzwischen gewinnt sein englischsprachiger Ableger auch unter jungen, propalästinensischen Aktivisten in Amerika an Zuspruch. Dass er nun in Israel verboten ist, wird ihm kaum schaden – zumal das Programm mithilfe von VPN im Internet immer noch empfangbar ist. Das Einzige, was den Sender tatsächlich in eine Krise stürzen könnte, wäre ein Ende des Krieges in Gaza. Denn worüber würde er dann berichten?
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