In Deutschland hat ein Urteil des höchsten Gerichts viel Diskussion ausgelöst: Das Bundesverfassungsgericht erklärte das gesetzliche Verbot von Kinderehen für verfassungswidrig. Was steckt hinter dem Urteil und bedeutet es in Konsequenz, dass die Höchstrichter Kinderehen erlauben?
Beginnen wir aber mit der Frage, warum sich das deutsche Gericht überhaupt mit der juristischen Aufarbeitung befassen musste: Ein 21-jähriger Syrer hatte im Jahre 2015 in seiner Heimat vor einem Scharia-Gericht eine 14-Jährige geheiratet, das Paar floh im selben Jahr nach Deutschland. Anhaltspunkte für eine Zwangsheirat gab es laut Landesgericht in Bayern nicht, so dass es den bis 2017 existierenden Spielraum nutzte, um die Ehe zu akzeptieren. Nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes wurde das örtliche Jugendamt aktiv, brachte die Minderjährige in einer Jugendhilfeeinrichtung unter und ordnete die Vormundschaft an. Der Bundesgerichtshof musste über den Fall entscheiden, setzte das Verfahren Ende 2018 aus und fragte das Bundesverfassungsgericht, ob die Vorschrift mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Darauf antwortete das Verfassungsgericht nun.
Kurz zusammengefasst sagten die Richter nun, dass zwar eine strikte Altersgrenze von 16 Jahren für die Heirat prinzipiell zulässig, das deutsche Gesetz jedoch „unverhältnismäßig“ sei, weil weder Unterhaltsregelungen getroffen wurden noch dafür gesorgt ist, dass Paare, die als Minderjährige geheiratet haben, bei Erreichen der Volljährigkeit an ihrer Eheschließung festhalten können. Das im Jahr 2017 neu gestaltete Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen verstößt daher gegen ddie Verfassung. Zwar dürfe der Gesetzgeber die Wirksamkeit von im Ausland geschlossenen Ehen von einem Mindestalter der Beteiligten abhängig machen, erklärte das Bundesverfassungsgericht. Doch müssten dann Regelungen über mögliche Folgen wie etwa Unterhaltsansprüche oder die Möglichkeit der Fortführung der Ehe im Erwachsenenalter getroffen werden.
Nun kommt, ohne die juristische Dialektik beruflich nachvollziehen zu können, der gesunde Menschenverstand ins Spiel, der den meisten Bürgern sagt: Wenn eine 14-Jährige verheiratet wird, ist das keine Ehe, sondern Kindesmissbrauch. Wem Menschenrechte etwas bedeuten, der sollte solche Praktiken ächten und juristisch unterbinden. Es sollte dabei die Aufgabe von Jugendämtern sein, Opfer – auch gegen ihren in diesem Moment möglicherweise artikulierten Willen – aus derartigen Situationen zu befreien und ihnen einen Neustart zu ermöglichen. Genau dies hat das Bundesverfassungsgericht nicht getan in seiner Entscheidung. Stattdessen wirkt das Urteil, wenn es einen „verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Eingriff in die Eheschließungsfreiheit“ bemängelt, wie eine Aufweichung.
Der für das damalige Gesetz verantwortliche Justizminister war Heiko Maas, der bei der Vorstellung den Satz aussprach: „Kinder gehören in die Schule – nicht vor den Traualtar.“ Er wollte mit dem neuen Gesetz sogenannten Kinderehen ein Ende bereiten, ein Problem, das durch die vielen Flüchtlinge augenfällig geworden war. Also legte die damalige Regierungskoalition ein Gesetz auf, dem allseits gute Absicht, aber schlechtes Handwerk attestiert wurde. Ehen mit Minderjährigen unter 16 Jahren sollten automatisch unwirksam sein, ohne Rücksicht darauf, dass insbesondere Frauen nach Jahren oder Jahrzehnten einer plötzlich nicht legalen Ehe ohne Unterhaltsansprüche dastehen würden. Familienrechtler warnten eindringlich, derart komplexe Probleme nicht mit der Brechstange zu lösen. Vergebens, im Juli 2017 trat das Gesetz in Kraft.
Der Gesetzgeber muss bis Ende Juni 2024 nachbessern. So lange bleibt die Vorschrift in Kraft, das Gericht legte selbst Maßgaben zu Unterhaltsansprüchen fest. Es ging in Karlsruhe nur um die Neuregelung für Ehen mit unter 16-Jährigen. Im Ausland geschlossene Ehen wurden ausnahmslos für unwirksam erklärt, wenn Ehepartner oder -partnerin bei der Heirat jünger als 16 Jahre waren.
Natürlich waren die Kritiker der Regelung keineswegs Fans der Kinderehe, sondern Fachleute mit dem Blick für die praktischen Nöte der Betroffenen. So sah es auch der Bundesgerichtshof (BGH), der 2018 den Fall dem Verfassungsgericht vorgelegt hatte.
Dem Beschluss zufolge kann eine strikte Altersgrenze von 16 Jahren allerdings nach wie vor zulässig sein. Denn zum Jawort gehört laut Gericht die Fähigkeit zur Selbstverantwortung, die eine hinreichende Persönlichkeitsentwicklung voraussetzt. „Es ist entwicklungspsychologisch hinreichend gesichert, dass Kinder unter 16 Jahren entwicklungsbedingt regelmäßig noch nicht in der Lage sind, die mit dem Eingehen einer Ehe verbundenen Folgen einschätzen zu können“, heißt es in dem Beschluss. Die Idee einer gleichberechtigten Partnerschaft vertrage sich nicht mit der „einseitigen Dominanz eines Ehepartners“.
In diesem Punkt ist das Gericht den Kritikern also nicht gefolgt. Vielfach war gefordert worden, Gerichte müssten auch bei Eheleuten unter 16 Jahren in jedem Einzelfall prüfen, welche Nachteile das jähe Ende einer Ehe für Unterhalt, Erbrecht und gemeinsame Kinder hat. Ähnlich ist es bei der geltenden Regel für 16- bis 17-Jährige, die weniger starr ausgefallen ist, auch dank der nachträglichen Abmilderung durch den BGH. Hier können die Gerichte das Für und Wider abwägen.
Das Verfassungsgericht indes hält die 16-Jahre-Grenze gerade auch wegen des damit verbundenen Automatismus für legitim. Denn ein jahrelanger Rechtsstreit um eine Eheaufhebung könne dem Kampf gegen Kinderehen die Wirkung nehmen. Es sei das erklärte Ziel des Gesetzes, im Einklang mit der Arbeit der Vereinten Nationen zur internationalen Ächtung von Kinderehen beizutragen, weil die verbreitete Praxis der Frühheirat die Entwicklungschancen besonders von Mädchen beeinträchtige. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef schätzt die Zahl der verheirateten Mädchen unter 18 Jahren auf weltweit 650 Millionen, die der Jungen auf 115 Millionen.
Zugleich müssen nach dem Karlsruher Beschluss aber die Konsequenzen der Ehe-Annullierung abgefedert werden. Nach Erkenntnissen von Unicef sind Kinderehen ein Armutsphänomen, das Mädchen aus ländlichen Regionen trifft. Sie werden, beispielsweise in Südasien, deutlich häufiger früh verheiratet als ihre Altersgenossinnen in den Städten. Wenn sie in Deutschland unversehens mit der Unwirksamkeit ihrer Ehe konfrontiert werden, stehen sie häufig mit leeren Händen da, ohne die Ansprüche auf finanziellen Ausgleich und Unterhalt, die sie bei einer Scheidung hätten. Hier muss der Gesetzgeber nachbessern.
Der zweite Punkt: Wenn die deutschen Behörden tätig werden, kann eine Minderjährigen-Heirat lange zurückliegen. Trotzdem gibt es nach dem geltenden Gesetz keine Gnade: Eine Ehe ist unwirksam, wenn ein Beteiligter bei der Heirat unter 16 war. Hier fordert Karlsruhe eine Möglichkeit für inzwischen volljährige Paare, an der Ehe festzuhalten. „Mit dem Erreichen der Volljährigkeit der bei der Eheschließung noch unter 16-Jährigen greift der Minderjährigenschutz als hauptsächlicher Zweck der vorgelegten Regelung nicht mehr“, heißt es in dem Beschluss.
Dies bestätigen übrigens auch die Erfahrungen mit dem Gesetz. Im Jahr 2020 hatte das Bundesjustizministerium lediglich 20 annullierte Ehen gezählt, die der 16- und 17-Jährigen eingeschlossen. Hingegen berichteten die Behörden von mehr als 1.000 Fällen, in denen sie auf Annullierungsanträge verzichtet hatten – weil die inzwischen volljährigen Ehefrauen an der Ehe festhalten wollten.
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