Mit Koranverbrennungen stürzen Extremisten und Wirrköpfe Schweden von einer diplomatischen Krise in die nächste. Doch der Regierung ist es praktisch unmöglich, die Aktionen zu verbieten. In der schwedischen Hauptstadt hört man in letzter Zeit häufig etwas von „schwierige Situation“, „ernste Lage“, „große Bedrohung“ – selten waren sich die schwedischen Parteien so einig in ihrer Einschätzung. Über die Frage, wie man ebendiese Situation entschärfen könnte, gehen die Meinungen freilich weit auseinander. Wie sieht es mit der Gesetzeslage in anderen europäischen Staaten aus?
Der Koran ist für Muslime eine heilige Schrift. Trotzdem hat der Staat wenig Möglichkeiten, gegen seine Schändung vorzugehen. In Schweden lässt sich gerade das Dilemma des freiheitlichen Staates auf besonders beklemmende Weise besichtigen. Rechtsextremisten und Flüchtlinge in Schweden, die vor den brutalen Regimen aus der MENA-Region geflüchtet sind, verbrennen öffentlich den Koran, die schwedische Regierung verurteilt die Taten „auf das Schärfste“ – aber die Gerichte entscheiden, dass die Aktionen unter dem Schutz der Grundrechte stehen. „Der verfassungsmäßige Schutz der Meinungsfreiheit hat Vorrang“, fasste im Juni eine Polizeisprecherin zusammen. Ermittelt wurde lediglich wegen Verstoßes gegen das Verbot von offenem Feuer in Stockholm. Derweil wurde in Bagdad die schwedische Botschaft von wütenden Demonstranten gestürmt. Dennoch verteidigt das skandinavische Land seine Freiheitsrechte, auch in Dänemark haben Koranverbrennungen stattgefunden.
Immer neue Koranverbrennungen, zuletzt vor der irakischen Botschaft und vor einer Moschee in Stockholm. Zweimal wurde daraufhin die schwedische Botschaft im Irak gestürmt, beim zweiten Mal setzten die Demonstranten das Gebäude in Brand. Der schwedische Botschafter wurde ausgewiesen, das Personal nach Stockholm ausgeflogen. Gleichzeitig zog der Irak den eigenen Botschafter aus Stockholm ab, und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan drohte, derlei Aktionen könnten die Zustimmung der Türkei zu einem Nato-Beitritt Schwedens weiter verzögern.
In Schweden hat allerdings die Polizei darüber zu entscheiden, ob eine angemeldete Demonstration zugelassen wird oder nicht. Anfang des Jahres lehnte sie einen der Anträge ab und stützte sich dabei auf das in Schweden geltende Versammlungsrecht, das der Polizei die Möglichkeit gibt, eine Demonstration zu verbieten, „wenn eine Gefahr für die Sicherheit und die öffentliche Ordnung besteht“. Das Stockholmer Verwaltungsgericht kassierte diese Entscheidung wieder ein, schließlich, so erklärt es ein Professor für internationales Recht an der Universität Stockholm, habe „die Polizei nicht ausreichend dargelegt, welches konkrete Sicherheitsproblem am Ort der Demonstration zu erwarten sei.“ Ein Berufungsgericht bestätigte dieses zweite Urteil.
Zwar wurde der Mann, der die Verbrennung dann durchführte, wegen Volksverhetzung angezeigt, der Staatsanwalt stellte die Ermittlungen aber mit dem Argument ein, die Koranverbrennung stelle nur eine schwere Missachtung des Islams dar, nicht aber der Muslime als Gruppe von Menschen. Das, so der Jurist, übrigens selber Muslim, „mag nach einem seltsamen Argument klingen, zeigt aber die allgemeine Einstellung in Schweden zur Meinungsfreiheit als uneingeschränktem Recht, das nur in Ausnahmefällen eingeschränkt werden kann.“
Was auch immer die wirre Botschaft hinter der Verbrennung einer heiligen Schrift sein soll, jedenfalls will der Verursacher damit eine irgendwie kritische, ablehnende Aussage über den Islam treffen. Man betritt mithin das Feld der Meinungsfreiheit, also eines Grundrechts, das einen jahrhundertelangen Konflikt gerade auch mit Religion und Kirche hinter sich hat. Heute, im 21. Jahrhundert, lässt sich festhalten, dass der Konflikt entschieden ist. Und zwar zugunsten der Meinungsfreiheit.
In anderen westlichen Demokratien ist es nicht erlaubt, heilige Schriften zu verbrennen – Finnland hat das Verbot der Verletzung der Religionsfreiheit einfach beibehalten, als Schweden es 1970 abschaffte. Dort wurde noch kein einziger Koran verbrannt. Zuletzt schrieb der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borell, die EU lehne „jede Form der Aufstachelung zu religiösem Hass entschieden ab. Die Achtung der Vielfalt ist ein Grundwert der EU. Dazu gehört auch der Respekt vor anderen Religionsgemeinschaften.“
Die Diskussion dreht sich in Schweden nun um die Frage, ob das bestehende Gesetz ausreicht, um weitere Verbrennungen zu verbieten. Schließlich könnte man den Passus über die „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ auch weiterfassen und unter Berufung auf die internationalen Proteste auf die nationale Sicherheit beziehen. Der schwedische Staatsschutz Säpo schrieb, die Sicherheitslage habe sich „aufgrund der Entwicklung der Ereignisse weiter verschlechtert“, die Bedrohungsstufe liege auf einer fünfstufigen Skala bei drei, „erhöht“. Erhöhte Bedrohung bedeutet laut Säpo, dass es „Akteure gibt, die sowohl die Absicht als auch die Fähigkeit haben, einen Terroranschlag durchzuführen“.
Die zweite Möglichkeit bestünde darin, die bestehenden Gesetze zu reformieren. Justizminister Gunnar Strömmer lässt das momentan prüfen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist laut einer aktuellen Umfrage gegen solch eine Änderung, schließlich, so das Hauptargument, dürfe man dem Druck islamischer Staaten nicht nachgeben, bei denen es sich hauptsächlich um Diktaturen handle, die kein Verständnis für die filigrane Meinungsfreiheit in Schweden haben.
Nun darf eine Regierung sich nicht von Meinungsumfragen leiten lassen. Aber selbst wenn Ministerpräsident Ulf Kristersson für solch eine Reform wäre: Ändern könnte man das Gesetz nur mittels einer parlamentarischen Mehrheit im Parlament. Die Opposition ist aber größtenteils dagegen – und findet sich in dem Fall in einer Koalition mit den Schwedendemokraten (SD) wieder. Die rechtspopulistischen SD, auf deren Unterstützung die Regierungskoalition angewiesen ist, sehen schon in der aktuellen Debatte um die Gesetzesänderung ein Anbiedern an islamistische Diktaturen.
Die letzte Hoffnung auf eine Änderung bleibt wohl beim obersten Gericht Schwedens. Dieser müsste dann neu entschieden, ob eine Koranverbrennung nicht doch den Straftatsbestand der Volksverhetzung erfüllt. Ein solches Verfahren könnte die bestehende Gesetzeslage ändern, schließlich würden alle internationalen Rechtsdokumente einschließlich der Europäischen Menschenrechtskonvention den Staaten das Recht einräumen, die Redefreiheit einzuschränken, wenn dies für die nationale Sicherheit des Landes und seiner Bürger notwendig ist.
Wie sieht es in anderen europäischen Staaten aus, die früher oder später mit ähnlichen Aktionen konfrontiert werden könnten? Im deutschen Strafgesetzbuch ist der bereits in die Jahre gekommene Paragraf 166, der die Beschimpfung religiöser Bekenntnisse unter Strafe stellt. Doch die Vorschrift führt unter dem Grundgesetz längst eine Randexistenz, verzeichnet sind kaum mehr als ein Dutzend Verurteilungen pro Jahr. Denn seine Voraussetzungen sind enger, als man auf den ersten Blick meinen mag: Weder schützt der Paragraf gläubige Menschen vor der Verletzung ihrer religiösen Gefühle noch vor einer Beleidigung Gottes – oder Allahs. Denn Gotteslästerung ist nicht mehr strafbar. Strafbar sind nur „besonders gravierende herabsetzende Äußerungen“, wie es in einem Strafrechtskommentar heißt. Und dies auch nur dann, wenn sie geeignet sind, den „öffentlichen Frieden“ zu stören. Das wortlose Verbrennen des Korans, das nicht von aufwieglerischer Hetze begleitet ist, dürfte danach auch in Deutschland nicht strafbar sein.
Dahinter steckt der Gedanke, dass eine freiheitliche Gesellschaft einen Meinungskampf aushalten muss, der mit harten Bandagen geführt wird. Der „Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien“ rechtfertige keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, ebenso wenig die „Wahrung von als grundlegend angesehenen sozialen oder ethischen Anschauungen“, formulierte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2009, damals ging es um Volksverhetzung. Selbst die befürchtete „Vergiftung des geistigen Klimas“ sei, für sich genommen, noch kein Grund für Äußerungsverbote.
Wie wichtig es sein kann, dass Kritik nicht wegen religiöser Gefühle verboten wird, zeigt der bald hundert Jahre alte Prozess gegen den Künstler George Grosz. Er, ein entschiedener Kriegsgegner, hatte eine Mappe veröffentlicht, aus der drei Blätter Anstoß erregten, darunter der abgemagerte Christus am Kreuz, mit Gasmaske und Soldatenstiefeln. Bildunterschrift: „Maul halten und weiter dienen.“ Der Fall ging durch die Instanzen, damals war Gotteslästerung noch strafbar. Das Reichsgericht hob einen ersten Freispruch auf und legte dem Landgericht für den neuen Prozess nahe, die Darstellung könne als rohe Form der Missachtung empfunden werden: „Das Gesetz will auch das schlichte Gefühl des einfachen, religiös gesinnten Menschen schützen.“
Im Jahr 1930 sprach ein Gericht Grosz im zweiten Prozess trotzdem frei, weil aus seiner Sicht das schlichte Gefühl in eine ganz andere Richtung wies. Die Bilderfolge des Malers stelle die Kriegseiferer den Gemarterten gegenüber, es sei wie ein Schrei aus allen Zeichnungen, die Gepeinigten würden „in Qual und Tod des Krieges hineingestoßen“. Darunter eben auch Christus, der Schwächste unter ihnen. Das sollte heißen: Die Darstellung mag wenig tröstlich sein, aber sie formuliert eine klare Kritik an den Kriegshetzern, übrigens auch jenen in den Reihen der Kirche. „Wer mit den Mächtigen geht, wer an der Seite der Gewalthaber streitet, wird nicht ans Kreuz geschlagen.“ So mutig formulierte ein Gericht im Jahr 1930.
Bleibt die Frage, ob der liberale Staat Koranverbrennungen nicht doch Einhalt gebieten könnte. Deutsche Juristen sehen das Rechtssystem zumindest für Extremfälle gut gewappnet. Sollten derartige Kundgebungen zu heftigen, kaum zu kontrollierenden Protesten führen, dann könnten sie womöglich nach den Regeln eines „polizeilichen Notstandes“ untersagt werden. Die Voraussetzungen seien zwar sehr eng, zunächst müsse die Polizei alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Aktion möglich zu machen.
Aber ähnlich wie bei harten linksautonomen Protesten gegen rechtsextreme Aufmärsche könnten die Behörden hier irgendwann die Reißleine ziehen – und doch ein wirksames Verbot aussprechen.
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