Kürzlich, bei einer Debatte um die Proteste im Iran, argumentierte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, es habe nichts „mit Religion oder Kultur“ zu tun, wenn eine junge Frau ermordet wird, die ihr Kopftuch nicht korrekt trägt. Dabei verkennt sie den Unterschied zwischen einem Staatswesen, in dem es eine freie Religionsausübung gibt und einer Diktatur wie jener im Iran, in der Staat und Gesellschaft auf der Basis eines fundamentalistischen Religionsverständnis aufgebaut sind.
Die Proteste in Europa gegen das Vorgehen des iranischen Regimes haben viele Menschen bewegt, es gab große Demonstration in allen großen Städten. Die sonst eher verschlafene französische Stadt Straßburg hat die größte Demonstration seiner Geschichte erlebt, als man das Europäische Parlament bewegen wollte, die Revolutionsgarden auf die Terrorliste der EU zu setzen.
Die eigentliche Revolution im Iran hat nicht 1979 stattgefunden, sondern 1905 bis 1911. Es war die sogenannte Konstitutionelle Revolution, eine liberale, demokratische Revolution, bei der Frauen bereits eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Herrscher sahen sich gezwungen, eine konstitutionelle Monarchie einzuführen. Damals formierte sich eine Gegenbewegung unter der Führung von einem Kleriker, der 1909 als Konterrevolutionär gehängt wurde. Dieser argumentierte, dass Demokratie und Islam nicht vereinbar sind, weil Gläubige und Ungläubige sowie Männer und Frauen niemals gleichberechtigt sein können. So gesehen, kam es mit der Islamischen Revolution 1979 zu einem späten Sieg der Scharia-Anhänger gegen die demokratische Revolution von 1905.
Festzuhalten ist, dass der Naturzustand der iranischen Gesellschaft natürlich nicht ein religiöser Gottesstaat ist. Dieser ist vielmehr das Ergebnis einer paradoxen geschichtlichen Bewegung. Bis heute zeigt sich aber in der europäischen Außenpolitik gegenüber dem Iran die Tendenz, die islamischen Reformer zu unterstützen. „Reformer“ ist im Iran inzwischen ein Schimpfwort, weil es genau diejenigen sind, die das System erhalten wollen.
Die aktuellen Proteste im Mullah-Staat haben zwar in den vorigen Wochen abgenommen, doch nun meldete sich die Bewegung kraftvoll mit mehreren großen Demonstrationen zurück. Die Revolution des Bewusstseins ist nicht rückgängig zu machen. Als sichtbares Zeichen wird das Kopftuch im Alltag zurückgedrängt. Viele Frauen zeigen sich in der Öffentlichkeit unverschleiert. Der jetzige Aufstand von Iranerinnen und Iranern hatte bereits seine Anfangsbewegung in den Protesten 2017 und 2019. Mit Corona kam eine Unterbrechung, doch kein Ende. Nun gab es über dreieinhalb Monate lang zahlreiche große Demonstrationen, in einer Kontinuität, die es nicht einmal 1979 gegeben hat.
Ausgangspunkt für die Proteste im modernen Iran war der Kopftuchzwang. Im Iran ist das Ablegen des Kopftuchs ein rebellischer Akt. In Europa, so wird häufig argumentiert, dürfe hingegen das Tragen eines Kopftuchs nicht eingeschränkt werden. Es gehe dabei allein um die individuelle Entscheidungsfreiheit. Überzeugt Sie das? Als es beispielsweise im deutschen Parlament das erste Mal um die revolutionären Ereignisse im Iran ging, hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock wortwörtlich gesagt, dass es „nichts, aber auch gar nichts mit Religion oder Kultur“ zu tun habe, wenn eine junge Frau ermordet wird, weil sie ihr Kopftuch nicht korrekt getragen hat. Das ist absurd.
Die Möglichkeit, in den westlichen Demokratien freiwillig ein Kopftuch oder kein Kopftuch zu tragen, hat mit der Religionsfreiheit zu tun. Und Muslime sind im Westen freier – auch in ihrer Religionsausübung – als in vielen islamischen Ländern, denken wir beispielsweise an die Schiiten in Saudi-Arabien oder die Aleviten in der Türkei. Das ist nicht das Ergebnis eines friedlichen Dialogs zwischen den Religionen, sondern das Resultat der mehr oder weniger konsequenten Emanzipation der europäischen Gesellschaften von der Religion.
Wenn eine Religion herrscht, kann es keine Religionsfreiheit geben, bestenfalls etwas wie Toleranz. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Abwerfen des Kopftuchs im Iran und den Kopftuchdebatten in Europa. Man sollte nicht so tun, als würden sich diese Dinge wie in zwei verschiedenen Universen abspielen. Das Wichtige ist, dass man Religionsfreiheit nicht mit der Freiheit der Religion vor Kritik verwechselt. Freud nennt die Religion eine „kollektive Neurose“. Man kann jemanden seine Neurose nicht verbieten, aber man muss sie kritisieren – und das muss möglich sein.
Seit Jahren gibt es in Europa einen Diskurs, der die Kritik der Religion aus der Debatte verbannen will. Es wird sogar behauptet, es wäre rassistisch, den Islam zu kritisieren. Das ist absurd. Es ist nicht rassistisch, irgendeine Religion zu kritisieren oder abzulehnen. Der neurechte Diskurs über Menschen aus islamisch geprägten Ländern ist zwar tatsächlich rassistisch, weil er den Islam als eine Art „Natureigenschaft“ von Menschen betrachtet. Die linke Kritik an den Neurechten übernimmt diese ihre Grundannahme aber oft und fängt dann an, den Islam zu verteidigen, statt diese falsche, weil fixe Verknüpfung von Herkunft und Religion zu kritisieren. In Frankreich, wo der Laizismus historisch stärker ist, lassen sich bereits so eigenartige Phänomene wie der „Islamogauchismus“ beobachten, ein Bündnis zwischen Linken und Islamisten.
Solche Phänomene sind Ausdruck einer Krise des säkularen und laizistischen Denkens vor dem Hintergrund sozioökonomischer Veränderungen westlicher Gesellschaften und der Krise der Linken. Wenn man von der Aufklärung und Religionskritik ausgehend, am Ende bei der Vorstellung landet, alle Religionen seien wertvoll und zu respektieren, ist etwas falsch gelaufen. Das ist schon rein logisch unmöglich, weil sich die Religionen oft untereinander nicht respektieren.
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