Dass die Vereinigten Arabischen Emirate zu den ersten gehören, die in Form einer Buchmesse aus dem globalen Koma erwachen, kann symbolisch verstanden werden. Auch die letzte richtige Buchausstellung vor der Winterkrise fand in einem der Emirate statt: im November in Sharjah. Die Messe in Abu Dhabi konnte in diesem Jahr die Runde der arabischen Buchmessen eröffnen. Bagdad folgt im Juni, Kairo im Juli, wenn Pandemie und Politik eine Rolle spielen.
Im Gegensatz zu den Messen in Europa sind diese Buchmessen für den Direktverkauf bestimmt. Publikum und Buchhändler decken sich ein ganzes Jahr lang mit Lesen ein. Der arabische Buchmarkt hat kein Vertriebssystem wie im deutschsprachigen Raum und der internationale Versand ist unzuverlässig. Dennoch ist der Online-Handel nach Angaben der Verlage in der Corona-Krise deutlich gewachsen.
Um die Verlage trotz der Pandemie nach Abu Dhabi zu locken, wurde in diesem Jahr auf die Standgebühr verzichtet. Käufer, vor allem Schüler und Studenten, aber auch Bibliotheken und Institutionen wurden mit staatlich geförderten Gutscheinen im Wert von mehr als einer Million Euro zum Kauf von Büchern ermutigt. Die reduzierte Ausstellungsfläche entspricht nur einer Hallenebene in Frankfurt. Nach offiziellen Angaben nahmen mehr als 800 Aussteller teil. Aber wenn man die Stände mitzählte, kamen nur etwa zweihundert, alle anderen waren nur virtuell vertreten. Voraussetzung für die Teilnahme war ein negativer PCR-Test, nicht älter als 48 Stunden, kostenlos auf der Messe erhältlich. Das Ergebnis lag jedoch erst am nächsten Tag vor, so dass spontane Besuche ausgeschlossen waren. Innen herrschte natürlich Masken- und Abstandsgebot; Die Einhaltung wurde von einer Gruppe junger, schwarz gekleideter Frauen mit großen Schildern überwacht.
Am Ende sollen 30.000 Menschen in den Hallen gewesen sein, schätzt Ali Bin Tamim, dessen „Zentrum für arabische Sprache“ als Teil des Ministeriums für Kultur und Tourismus die Messe organisiert hat. Der Anspruch auf kulturelle Vormachtstellung, den die Elite der Emirate hegt, ist nicht unbegründet. Der Wettbewerb innerhalb Arabiens ist seit langem gelähmt: Beirut durch die verheerende Hafenexplosion im vergangenen August, die Bankenkrise und die Unregierbarkeit des Landes, Kairo durch die gescheiterte Revolution und eine konservative Restaurationspolitik, die auch anti-islamisch ist. Viele Verlage ziehen Konsequenzen aus dem geokulturellen politischen Wandel: Der Deutsch-Iraker Khalid Al-Maaly etwa, der in diesem Jahr für seine Verdienste um die deutsche Literatur mit dem Gundolf-Preis der Deutschen Akademie Darmstadt geehrt wird, berichtet gerade über seine neueste Veröffentlichungen.
Eines der schönsten Museen der Welt
Vielen in Europa, aber auch in der arabischen Welt erscheint der kulturelle Anspruch der Emirate anmaßend. Aber in Corona-Zeiten ist die Anmaßung in Sachen Kultur eine Wohltat. Fast denkt man, dass Kultur hier mehr bedeutet als in Deutschland, wo Museen bei ähnlicher Fallzahl geschlossen sind. Du kommst ohne Prüfung zum Louvre Abu Dhabi und spazierst fast alleine durch eines der schönsten Museen der Welt.
Doch während die bildende Kunst immer repräsentativen Zwecken diente, wurde das Wort auch am Golf als prestigeträchtig gehandelt. Um sie ins Rampenlicht zu rücken, vergeben die arabischen Golfstaaten Preise, von denen westliche Autoren nur träumen können. Der in mehreren Kategorien vergebene und nach dem Gründer der Vereinigten Arabischen Emirate benannte Sheikh Zayed Prize ist mit rund 200.000 Euro einer der höchstdotierten. Der Hauptpreis ging in diesem Jahr an Jürgen Habermas, dessen Sozialtheorie in der arabischen Welt hoch geschätzt wird.
Er nahm zunächst an, überlegte aber nach der Lektüre eines kritischen Artikels im deutschen Magazin „Der Spiegel“ und lehnte ab. Die betrogenen Emiratis wollen Habermas‘ Sinneswandel anders erklären und vermuten hinter verschlossenen Türen eine Verschwörung der Konkurrenz aus Katar, die die von den Emiraten bekämpfte Muslimbruderschaft unterstützt. Eine führende Rolle soll der in Nazareth geborene arabisch-israelische Intellektuelle und Politiker Azmi Bishara spielen. Bishara, der in Ost-Berlin studierte, war von 1996 bis 2007 Mitglied der Knesset, bis er wegen Hochverrats ins Exil nach Katar gezwungen wurde. Dort gründete er den Think Tank „Doha Institute“, der auch Forscher aus Deutschland beherbergt. Da die Ablehnung Habermas von vielen arabischen Intellektuellen als Position gegen den Frieden mit Israel verstanden wird, ist die Begeisterung für den Philosophen gerade nach den jüngsten bewaffneten Auseinandersetzungen enorm. Im Kampf um kulturelle und politische Hegemonie in der Region ist dies ein kleiner Punktsieg für Katar, auch wenn Habermas kaum Hintergründe kennt.
Der Feind meines Feindes
Nach der Absage des Philosophen stand die Preisverleihung für arabische Literatur im Vordergrund: Sieger wurde der in Kanada lehrende Ägypter Iman Mersal. In Deutschland ist er seit ihrem Auftritt beim Kölner Poesiefestival im Jahr 2000 bekannt. Damals schrieb er Verse, in denen man über Gefühle nach einer Abtreibung oder die mysteriöse Verbindung zwischen Marxismus und Dessous lesen konnte.
In diesem Jahr wurde er für ein Prosawerk ausgezeichnet, die romanhafte Erforschung und Nacherzählung des Lebens der ägyptischen Autorin Enayat Al-Zayyat, die sich 1963 im Alter von 26 Jahren das Leben nahm. Das Buch entspricht einem Trend in der zeitgenössischen arabischen Literatur das hat auch die Shortlist des „International Prize for Arabic Fiction“ geprägt, der vom Londoner Booker Prize mitgefördert wurde und der auch (quasi) in Abu Dhabi verliehen wurde: Viele Autoren wenden sich der Zeitgeschichte zu. Am Ende siegte der 1970 geborene Jordanier Jalal Barjas mit „The Bookseller’s Notebooks“, das dem Genre der Romane über das Lesen von Büchern dient, aber gleichzeitig die apokalyptische Stimmung trifft, die sich in vielen Ländern der arabischen Welt verbreitet hat – wenn auch nicht im Golf.
Da Abu Dhabi in diesem Jahr auch den Arab Booker Prize fördert, haben die Emirate mittlerweile fast das Monopol auf die großen arabischen Literaturpreise. Dennoch zeigen alle preisgekrönten Bücher ein weitreichendes kritisches Bewusstsein, sind fortschrittlich im emanzipatorischen, sozial engagierten Sinne, regen zu politischen Widersprüchen an und stellen sich mitunter brutal gegen euphemistische Darstellungen arabischer, insbesondere religiöser Gesellschaften.
Das heißt nicht, dass die Emirate mit ihrer Literaturförderung keine politische Agenda verfolgen. Sucht man nach der Personifizierung dieser Kulturpolitik, stößt man auf Omar Ghobash, Jahrgang 1971. Nach Stationen als Botschafter in Moskau und Paris ist er heute Staatsminister im Außenministerium. Als Sponsor finanziert er einen Preis für Übersetzungen aus dem Arabischen, der von der Londoner Zeitschrift Banipal ausgeschrieben wird. Ghobash sieht aus wie George Clooney, spricht Englisch, Arabisch, Russisch und Französisch und hat sich öffentlich für das Friedensabkommen mit Israel 2020 eingesetzt. Er hat persönlich erfahren, dass die arabische Welt leidet, wenn der palästinensisch-israelische Konflikt gewalttätig wird: Sein Vater Saif Ghobash, wurde 1977 versehentlich von palästinensischen Terroristen erschossen.
Omar Ghobash verfasste auch das verschleierte kulturpolitische Manifest der neuen emiratischen Kulturpolitik. Es erschien in Form eines Buches mit fiktiven Briefen an seinen jugendlichen Sohn, der mit religiösen Zwängen zu kämpfen hatte. Es wurde 2017 unter dem Titel „Es gibt keinen Grund zu hassen – Ein liberaler Islam ist möglich“ bei Rowohlt in deutscher Sprache veröffentlicht. Ghobashs Vision ist ein entpolitisierter muslimischer Humanismus, der den individuellen Weg betont und die Extreme der hochpolitisierten Religion der Muslimbruderschaft und der Dschihadisten durchbrechen will – und das aus guten Gründen.
Die Emirate sind mit ihrem Liberalismus Heimat vieler ähnlich denkender Intellektueller geworden, etwa des 2019 verstorbenen syrischen Religionsreformers Mohammed Shahrur oder der ebenfalls von Syrien inspirierten Verlegerin Mayadeh Kayali. Ihre jüngste Publikation trägt den Titel: „The engineering art of dominion over women – Marriage in the old cultures of Egypt and Iraq“. Glaubt man der geschiedenen Mutter zweier Kinder, muss die Ehe bis heute als fragwürdige Ingenieurskunst betrachtet werden.