Bei einer unangekündigten Inspektion haben Experten der Internationalen Atomaufsichtsbehörde (IAEA) das Verschwinden von 2,5 Tonnen Uranverbindungen aus einem Lager in Libyen entdeckt. Zehn Fässer des in Fachkreisen „Yellowcake“ genannten gelblichen Pulvers seien aus dem nur mit „hohem logistischen Aufwand zugänglichen“ Lager entwendet worden, teilte IAEA-Direktor Rafael Grossi den Mitgliedsländern der Organisation brieflich mit. „Yellowcake“ wird in angereicherter Form unter anderem für den Bau von Atomwaffen verwendet. Man prüfe nun den Verbleib des nuklearen Materials. Libysche Sicherheitskreise gaben an, dass es sich um ein Lager unweit der südlibyschen Stadt Sebha handele. Dort hatte das Regime unter Muammar al-Gaddafi nach dem Ende des geheimen libyschen Chemie-und Atomwaffenprogramms die radioaktiven Substanzen gelagert.
Weiter nördlich, in der Stadt Tajoura, betrieb Libyen Zentrifugen zur Anreicherung von Uran und ein Forschungsprogramm zum Bau von Atomwaffen. Unter dem Eindruck der US-Invasion in den Irak hatte Gaddafi das Atomwaffenprogramm Ende 2003 gestoppt, im Gegenzug endeten die Sanktionen der UN gegen Libyen. Gaddafis Geheimdienstchef Mussa Koussa stieg später sogar zu einem Kooperationspartner westlicher Dienste im Rahmen von deren „Krieg gegen den Terror“ auf.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hatte 2011 während des Aufstands gegen Gaddafi in Koussas verwaistem Büro Unterlagen gefunden, die auf Verhöre von britischen und amerikanischen Geheimdienstlern mit nach Libyen entführten islamistischen Milizen hinweisen. Direkt nach dem Tod von Gaddafi im September 2011 warnten diese Geheimdienste vor dem Sicherheitsrisiko der meist unbewachten Lager in der libyschen Wüste, in denen viele dieser Milizen saßen.
Im Dezember 2011 fanden Mitarbeiter des damaligen Sondergesandten der Vereinten Nationen für Libyen an der Straße zwischen Sebha und der nahen Militärbasis Temenhint 6.400 Fässer voller Yellowcake und mindestens 500 Tonnen Industriechemikalien zur Herstellung von Nervengas. „Der gesamte Vorrat des uns bekannten konzentrierten Uranpulvers ist zwar vorhanden, aber für Milizen zugänglich“, berichtete Martin daraufhin dem UN-Sicherheitsrat. Libyen riet er, das radioaktive Material zu verkaufen. Das konzentrierte Uran jedoch verblieb in Sebha. Westliche Geheimdienste waren offenbar zu sehr damit beschäftigt, Tausende schultergeschützter Luftabwehrraketen aufzukaufen, die von libyschen Milizen über Facebook oder auf Märkten angeboten wurden.
Haftars LNA kontrolliert mittlerweile neben der östlichen Cyreneika-Provinz auch die libysche Sahara und damit Sebha. Ein anderer Partner Haftars sind die Söldner der russischen Sicherheitsfirma Wagner. Im zentrallibyschen Jufra verfügt die „Gruppe Wagner“ über mehrere moderne Mig-29-Kampfjets der russischen Luftwaffe. „Von den Militärflughäfen Temenhint, Jufra und Bengasi fliegen regelmäßig russische Transportmaschinen nach Syrien“, berichtet ein libyscher Journalist aus der Nähe von Sebha. Das verschwundene Uran zeige, wie sehr das anhaltende Sicherheitsvakuum in Libyen die gesamte Region gefährde. Haftars internationale Kooperationen könnten dem syrischen Regime von Baschar al-Assad, der Wagner-Gruppe oder auch dem Regime im Iran Zugang zu libyschem Uran ermöglicht haben.
Ende März präsentierte nun der LNA-Sprecher Khaled al-Majoub eine überraschende Wende. Die fehlenden Fässer seien fünf Kilometer von dem Lager entfernt in Richtung der Grenze zum Tschad gefunden worden, so al-Majoub. Doch es bleiben viele Fragen. Ein von LNA-Soldaten gedrehtes Video zeigt 18 Fässer, die IAEA hatte aber nur zehn als vermisst gemeldet. Al-Majoub behauptet zudem, die Halle sei, anders als von der IAEA beschrieben, mangels Lieferung von nötigen Überwachungstechnik für jeden frei zugänglich gewesen.
Ein libyscher Sicherheitsexperte aus Haftars ostlibyscher Hochburg Bengasi, der anonym bleiben will, zieht Parallelen vom Verschwinden des Urans zu der zurzeit dramatisch ansteigenden Zahl von Migranten-Booten, die aus Ostlibyen in Richtung Italien ablegen. Mit 5.000 Dollar pro Platz würden sowohl Armeeoffiziere als auch Schmuggler mit den Bootsflüchtlingen viel Geld verdienen. Gleichzeitig sei das Phänomen ein politisches Druckmittel. „Da nur Haftar die Migration stoppen kann, macht ihn das zu einem zwangsläufigen Partner der internationalen Gemeinschaft“, so der Libyer.
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