Im Juli 2023 sorgte ein Foto aus einem Fitnessstudio für Aufregung. Darauf zu sehen war der ehemalige deutsche Nationalspieler Mesut Özil mit einem Trainingspartner. Özil lächelte und gab den Blick auf eine Tätowierung frei. Auf seiner Brust waren drei Halbmonde und ein heulender Wolf abgebildet, das Symbol der Grauen Wölfe, einer ultranationalistischen türkischen Bewegung. Mit 18.000 Mitgliedern gilt sie als grösste rechtsextreme Bewegung in Deutschland.
Das Berliner Olympiastadion war beim EM-Viertelfinale ein Meer aus roten Trikots. Aber seit dem Abpfiff wird weniger über die EM-Viertelfinalniederlage der türkischen Fußballnationalmannschaft gegen die Niederlande gesprochen, als vielmehr über die Geste, die Tausende Fans während der türkischen Nationalhymne mit ihren Händen formten: Mittel- und Ringfinger bildeten die Schnauze, Zeige- und kleiner Finger die Ohren eines stilisierten Wolfes. Der „Wolfsgruß“, das Erkennungszeichen türkischer Rechtsextremisten, der „Grauen Wölfe“, wie sie sich nennen. Den Gruß hatte Nationalspieler Merih Demiral ein paar Tage vorher beim Torjubel gegen Österreich gezeigt, wofür er von der Uefa für zwei Spiele gesperrt wurde. Schon vor dem Spiel einen Fanmarsch, auch dort zeigten Türkei-Anhänger den Wolfsgruß und skandierten: „Wir wollen keine Flüchtlinge in unserem Land!“ Die Polizei löste den Marsch auf. Dabei ist weder der Wolfsgruß in Deutschland verboten noch die Grauen Wölfe als Organisation: Warum eigentlich nicht?
Der Fussball ist seit Jahrzehnten eine Rekrutierungsplattform für die Grauen Wölfe. Es war noch vor der EM klar, dass sie das Sportevent für ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit intensiv nutzen würden. An der Fussball-Europameisterschaft in Deutschland absolvierte die türkische Nationalmannschaft zwei Vorrundenspiele in Dortmund und damit im Ruhrgebiet, wo die Grauen Wölfe gut vernetzt sind.
Deutsche Bürger mit familiärem Hintergrund in der Türkei, die offen den Extremismus der Grauen Wölfe bekämpfen, schauen genau hin, was in den Hochburgen der türkischen Extremisten in Deutschland passiert. Bei mehreren Fußballspielen von Jugendlichen beobachtet man Flaggen, Trikots und Banner mit Symbolen der Grauen Wölfe. Mitunter werden beim Einlaufen der Mannschaften völkische Marschlieder gesungen, die die türkische Nation über alle anderen stellt. „Trainer und Eltern stachelten die jungen Spieler auf und sprachen von Türkentum – als ginge es um eine Schlacht“ sagt jemand, der sich in der Jugendkultur bestens auskennt.
Hin und wieder kommt es auf den Plätzen zu Angriffen. Zu den Opfern zählten kurdische, alevitische und dunkelhäutige Fussballer. Immer wieder werden gewaltverherrlichende Sprache in Spielberichten dokumentiert, aber meist ohne Konsequenzen: denn die Grauen Wölfe sind in der Lokalpolitik bestens vernetzt. Und in den Fussballverbänden gibt es über ihre Geschichte und ihre Strukturen kaum Wissen.
Die Grauen Wölfe in der Türkei haben ihren Ursprung in den 1960er Jahren. Sie bezeichnen sich als „Ülkücüler“, als Idealisten, und propagieren eine historische, ethnische und moralische Überlegenheit der Turkvölker. Von Beginn an waren die Grauen Wölfe in der Türkei an die MHP gebunden, die Partei der Nationalistischen Bewegungen. Tausende türkische Auswanderer brachten die Ideologie mit nach Westeuropa.
Die Ülkücüler pflegen viele Feindbilder, ob Armenier, Kurden, Juden oder die USA. Wegen alldem beobachtet der deutsche Verfassungsschutz die Bewegung. Der Inlandsnachrichtendienst rechnet ihr in Deutschland mehr als 12.000 Anhänger zu, deren überwiegender Teil in Vereinen und Verbänden organisiert ist. Der größte davon ist die „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland“, deren gut 200 Ortsvereine laut Verfassungsschutz insgesamt knapp 7.000 Mitglieder haben. Die „Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa“ zählt demnach etwa 2.500 Mitglieder, die „Föderation der Weltordnung in Europa“ noch einmal 1.000. Laut Verfassungsschutz geben sich diese Vereine nach außen hin harmlos, organisieren zum Beispiel Sport- und Kulturveranstaltungen, versuchen aber in Wahrheit, ihr rechtsextremes Weltbild zu streuen.
Ülkücü-Anhänger, die nicht in diesen Vereinen sind, machen das Verfassungsschützern zufolge wesentlich offener: Manche setzen unverhohlen rassistische oder antisemitische Posts auf Social Media ab, posieren dort auch mit Waffen – und bedrohen in der echten Welt immer wieder ihre Gegner, besonders Kurden.
Die Bewegung und ihre Gesten sind aber in der Türkei weitestgehend normalisiert. Nicht nur Politiker aller Couleur wie Präsident Recep Tayyip Erdogan oder der frühere Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ließen sich öffentlich mit dem Wolfsgruß ablichten. Auch viele scheinbar unpolitische Influencer zeigten ihn in den vergangenen Tagen, um ihre Nationalmannschaft anzufeuern. Jeder Erwachsene, der die Geste zeigt, weiß auch, was er damit aussagt. Das bedeutet aber nicht, dass sie zwangsläufig den Grauen Wölfen angehören. Viele Türken zeigten die Geste, um Sympathie mit der Bewegung oder ihrer Ideologie auszudrücken. Dies erschwere auch Einschätzungen über Strukturen und Größe der Bewegung.
In Deutschland dienten zufolge insbesondere Moscheen als Ort der Politisierung und Radikalisierung. Das Fußballfeld kommt für türkische Nationalisten dann ins Spiel, wenn die Bewegung junge, potenziell gewaltbereite Männer mobilisieren will. Die Grauen Wölfe rekrutierten neue Mitglieder in Fußballmannschaften, Kampfsportvereinen und Motorradklubs.
Zum Beispiel nach Deutschland. Ab den 1970er Jahren bemühten sich türkische Gastarbeiter vermehrt um den Eintritt in Fussballvereine, doch die regionalen Verbände des Deutschen Fussball-Bunds (DFB) lehnten sie in der Regel ab. Sportfunktionäre teilten zu jener Zeit die weitverbreitete Meinung, dass die Gastarbeiter sowieso in die Türkei zurückkehren würden. Integrationskonzepte gab es kaum.
Die Gastarbeiter gründeten eigene Klubs, vor allem im Ruhrgebiet, der industriellen Herzkammer Deutschlands im Westen des Landes. Oft hörten sie aus der Mehrheitsgesellschaft den Vorwurf, dass sie sich abschotteten. Dann erwiderten sie, dass ihre Vereine nur eine Reaktion auf den Rassismus der Deutschen seien. Viele Familien leben seit Jahrzehnten in Deutschland, beziehen ihre Nachrichten aber weiterhin aus türkischen Zeitungen und Fernsehsendungen.
An diese politische Orientierungslosigkeit konnten die Grauen Wölfe mit ihrer Ideologie anknüpfen. Die Grauen Wölfe greifen die Ausgrenzungserfahrungen der jungen Fussballer auf und bieten eine Alternative an: den türkischen Nationalismus. Eines ihrer Mottos: „Werde Deutscher, bleibe Türke!“
Vor diesem Hintergrund wirkt Mesut Özil für die Grauen Wölfe wie eine Werbefigur. Für einige Jahre galt der Weltmeister von 2014 als Hoffnungsträger einer multikulturellen deutschen Gesellschaft, doch nach einem Foto mit dem türkischen Präsidenten Erdogan begann 2018 sein Abstieg.
Die Kritik an Özil war oft begleitet von Rassismus. Bei vielen Amateurfußballern in Deutschland war er damit untragbar, doch in migrantischen Sportvereinen wuchs sein Heldenstatus. Ein Fußballer, der für Deutschland alles gibt und trotzdem von der Mehrheit abgelehnt wird? In dieser Erzählung finden sich viele türkischstämmige Jugendliche wieder. Es sind die Grauen Wölfe, die diesen Frust aufgreifen, mit Parolen verstärken und den Blick noch stärker in Richtung Türkei lenken wollen.
Wenn es in der Türkei polarisierende Debatten gibt, dann wächst auch im Ruhrgebiet die Bedrohungslage. Besonders Minderheiten wie die Aleviten spüren, wie die Ultranationalisten ihre Wut an türkischstämmigen Menschen auslassen, die das Türkentum nicht unterstützen. Zum Beispiel 2016, als nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei auch in Berlin, Hamburg oder Stuttgart kurdische Einrichtungen attackiert wurden.
Es gibt Fussballvereine in Deutschland, die der Verfassungsschutz im Spektrum der Grauen Wölfe verortet, etwa Vereine, die ihr Bekenntnis zum türkischen Nationalismus im Namen tragen, zum Beispiel Turanspor. Andere Vereine sind zurückhaltender, nutzen die alttürkische Schrift oder verwenden Symbole der osmanischen Kultur, darunter die Zahl 1453. In jenem Jahr wurde das christliche Konstantinopel von den Osmanen erobert.
In den sozialen Netzwerken einiger deutsch-türkischer Vereine stösst man auch auf Verbindungen zur rechtsextremen türkischen Partei MHP. Es finden sich Videos von gewaltverherrlichenden Rappern. Oder Jugendspieler, die den „Wolfsgruss“ zeigen oder Kommentare hinterlassen wie: „Der Türke wird tapfer sein und der Jude feige.“
Wie lässt sich der Einfluss der türkischen Rechtsextremen in Deutschland zurückdrängen? Einige Fussballverbände achten schon in der Saisonplanung darauf, dass Mannschaften, die den Grauen Wölfen nahestehen, nicht in derselben Spielklasse antreten wie kurdisch geprägte Teams. Und zumindest im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen können Fussballer nun auch Angriffe der Grauen Wölfe bei einer Meldestelle angeben.
Viele plädieren für ein Verbot der Grauen Wölfe. So wie in Frankreich, wo der Ministerrat 2020 die Auflösung der Grauen Wölfe angeordnet hatte. Doch es gibt Bedenken juristischer Art. Bei den Grauen Wölfen handelt es sich nicht um eine zentrale Partei mit festen Mitgliedschaften, sondern um eine verzweigte Bewegung.
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