Mit seinen teils unklaren Äußerungen zum Krieg in Gaza hat Frankreichs Präsident eine Menge Leute irritiert und auch verärgert. Die Franzosen wundern sich gerade über die Nahostpolitik ihres Präsidenten. Und die Welt wundert sich mit. Kein politischer Führer des Westens redet so viel wie er. Doch keiner ist schwerer lesbar als der Franzose. Macrons Linie zum Krieg in Nahost mäandert, sie oszilliert scheinbar wild. Die Zeitung Le Figaro gebraucht dafür eine Metapher aus der Meteorologie: „tourbillon“, Wirbelwind. Da ist alles drin: die schnelle Drehzahl von Macrons Stellungnahmen, seine getriebene Unstetigkeit, die daraus resultierende Konfusion. Auch Le Monde bedient sich beim Wetter: „Macron vernebelt seine Botschaft“ – mit seinen vielen Wortmeldungen, mit dieser Kaskade von Gesten und Voten. Man erkenne dahinter seine Prioritäten nicht mehr. Das finden sie sogar im französischen Außenministerium im Quai d’Orsay.
Direkt nach den Terroranschlägen von Hamas war Macron noch deutlich: Seine Solidarität mit Israel passte in Tonfall und Deutlichkeit zu dem, was man aus anderen westlichen Kapitalen hörte. Frankreich hat in jüngerer Vergangenheit viel Leid erfahren durch islamistischen Terrorismus: Der Angriff der Hamas auf die jungen Menschen bei einer Raveparty erinnerte die Franzosen an die Terrornacht in der Pariser Konzerthalle Bataclan, 2015. Macron sprach Israel natürlich auch das Recht auf Verteidigung zu, auf einen Gegenschlag in Gaza. Die Franzosen rief er auf, eins zu bleiben in dieser schwierigen Zeit und den Konflikt nicht zu „importieren“. Das ist eine objektive Sorge: In Frankreich leben eine große jüdische und eine sehr große muslimische Gemeinde.
Der dringliche Appell an die republikanische Einheit bot eine Vorahnung dafür, was folgte: Die französische Innenpolitik legt sich in dieser Angelegenheit immer und unweigerlich über die Außenpolitik. Macron war dann von allen Staats- und Regierungschefs aus vergleichbar großen westlichen Demokratien der letzte, der nach Israel fuhr, um seine Solidarität auch in Präsenz zu zeigen – nach Olaf Scholz und Joe Biden, nach dem Briten Rishi Sunak und „sogar“ nach der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni, wie es die französischen Medien mit einem maliziösen Adverb hervorhoben. Das Élysée erklärte die späte Reise damit, dass der Präsident sich zunächst mit dem Terroranschlag in einem Gymnasium im nordfranzösischen Arras habe beschäftigen müssen, bei dem ein Lehrer getötet worden war. Bei anderer Gelegenheit hieß es, er habe schlecht zur selben Zeit hinfahren können wie Biden, als wäre das eigentlich geplant gewesen. Die Malaise war erkannt. Sie sollte aber noch größer werden.
Auch Frankreichs Botschafter in der arabischen Welt sind verstört Als Macron sich mit den israelischen Spitzen traf, sagte er, um die Hamas zu bekämpfen, müsse man nun an eine internationale Koalition denken, wie man sie gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ gebaut habe. Aber was wollte der französische Präsident damit sagen? Meinte er etwa auch, dass ausländische Bodentruppen in den Kampf eingreifen könnten? Israels Premier Benjamin Netanjahu ging gar nicht erst auf die Aussage ein, kein Wunder: Israels Regierung wird sich kaum reinreden lassen im Konflikt mit dem Todfeind. Nach ein paar Stunden präzisierte das Élysée den Gedanken des Präsidenten mit einem eiligen Kommuniqué. Macron, hieß es, habe damit sagen wollen, man könne sich von der Zusammenarbeit im Kampf gegen den IS inspirieren lassen, etwa wenn es um den Austausch von Informationen gehe. Das war mehr als eine Präzisierung: Das war eine Korrektur. Wie Le Figaro berichtet, hatte sich ein Dutzend französischer Botschafter, die in der arabischen Welt stationiert sind, danach in einer beispiellosen diplomatischen Korrespondenz über die Politik des Präsidenten beklagt. Die sei viel zu nahe an Israel, der Unmut darüber sei groß in ihren Ländern. Frankreich, schrieben sie, müsse sich jetzt sehr rasch auf seine traditionelle „Ausgewogenheit“ in nahöstlichen Fragen besinnen.
Jahrzehntelang hielt man die Balance, auch wenn das den Regierenden zuweilen einen Spagat abverlangte. Spätestens unter Präsident Nicolas Sarkozy schmiegte sich Frankreich dann näher an die Seite Israels. Offen debattiert wurde diese Wende nicht. Macron versucht nun seit ein paar Wochen, zur alten Balance zurückzufinden – und verwirrt damit alle. Mehr noch: Er spricht sich offenbar mit niemandem ab, bevor er neue Initiativen lanciert, wie etwa die internationale Hilfskonferenz für Gaza in Paris am Anfang November. Achtzig Länder entsandten Delegationen, nur wenige waren hochrangig besetzt. Macron plädierte für eine „humanitäre Pause“, damit der palästinensischen Zivilbevölkerung geholfen werden könne, mit Medikamenten, Nahrung, Treibstoff. Der Gipfel enttäuschte selbst die Hilfsorganisationen, er war ein Solo Macrons. Bei der Gelegenheit versicherten die Berater des Präsidenten, man rede ganz bewusst nicht von „Waffenstillstand“, weil der im Moment undenkbar sei: Israel werde nicht mit der Hamas, die es zu vernichten gelobt hat, über einen Waffenstillstand verhandeln. Darum fordere man eine „humanitäre Pause“ – eine Wortwahl, wie das Élysée zu bedenken gab, die danach auch andere gebraucht hätten. Oder anders ausgedrückt: Macron sei in dieser Krise Avantgarde, er gebe das „Wording“ vor.
Später wurde das Verhalten des französischen Präsidenten noch fragwürdiger: Warum nahm Macron nicht am Marsch gegen Antisemitismus teil? In Paris war ein großer „Marsch für die Republik und gegen den Antisemitismus“ angekündigt, denn die Zahl antisemitischer Gesten und Taten ist auch in Frankreich gestiegen. Aufgerufen dazu hatten die Parlamentspräsidenten. Macron entschied sich früh gegen eine Teilnahme, weil er fand, die Kundgebung werde von der extremen Rechten und Linken mit Kalkül instrumentalisiert. Am Wochenende davor fand das Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs statt. Da erklärte Macron der enttäuschten Urenkelin des berühmten jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus seinen Entscheid. „Ich habe noch nie an einer Demo teilgenommen“, sagte er. Er sei ein Mann der Tat. Die Kameras filmten die Szene, die Mikrofone fingen alles auf. In der Antwort schwang Trotz mit. Um sein Fernbleiben etwas abzufedern, schrieb Macron einen offenen Brief, in dem er seine Betroffenheit über den wachsenden Antisemitismus ausdrückte. Er sei „in Gedanken und mit dem Herzen“ dabei. Doch dass er nicht mitmarschierte, nahmen ihm viele Franzosen übel.
Dann ein Interview Macrons mit der britischen BBC. Er kritisierte darin Israel mit bis dahin einzigartiger Härte für die Militäroperation in Gaza. „De facto“, sagte Macron, „werden heute Zivilisten bombardiert. Diese Babys, diese Frauen, diese betagten Menschen werden bombardiert und getötet.“ Es gebe dafür „keine Rechtfertigung“, „keine Legitimität“. Frankreich halte Israel deshalb dazu an, aufzuhören. Forderte Macron da tatsächlich einen unilateralen Waffenstillstand? Ohne Absprache mit den Partnerstaaten? Zugleich Hektiker und „lahme Ente“ Seine Botschafter in der arabischen Welt waren zufrieden. Netanjahu aber reagierte scharf. Die Verantwortung für all das Leid liege allein bei der Hamas. Man lasse sich aus Paris keine Morallektionen erteilen. Wieder musste das Elysée die Worte des Präsidenten präzisieren, relativieren, korrigieren. Macron habe nicht zu einer einseitigen Waffenruhe Israels aufgerufen, hieß es in einem weiteren Kommuniqué, sondern zu „humanitären Feuerpausen“. Das habe er so auch dem israelischen Amtskollegen Isaac Herzog gesagt, am Telefon. Doch da war der Wirbelwind schon entfesselt.
Macron verdankt einen schönen Teil seines politischen Erfolgs einer Formel: „en même temps“, sagt er oft. Das ist französisch für gleichzeitig, zugleich – aber auch für sowohl als auch. Macron bewegt sich immer in der unwägbaren Mitte, weder links noch rechts. So nahm er den Sozialisten und den Gaullisten fast alle Wähler weg. In der Außenpolitik ist „en même temps“ aber selten eine gangbare Option. Das hat man schon in der ersten Phase des Kriegs in der Ukraine gesehen. Auch dort versuchte sich Macron zunächst im Spagat, bezeugte Kiew seine Unterstützung und wollte gleichzeitig Moskau nicht brüskieren. Das brachte nichts. In Nahost ist „en même temps“ sogar sehr heikel. Die Fiebrigkeit Macrons hat wohl noch einen weiteren Grund, einen, der eng mit seiner persönlichen Situation zusammenhängt. Er steht noch immer am Anfang seiner zweiten Amtszeit als Präsident, fast vier Jahre bleiben ihm noch. Doch da das zweite Mandat auch das letzte ist, verblasst sein Licht bereits: Er wandelt sich zusehends vom halben König zur „lahmen Ente“.
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