September 2021: In Paris beginnt ein Jahrhundertprozess. An einem Freitag, den 13. November 2015, hatten sich in der Konzerthalle Bataclan, auf den Terrassen mehrerer Cafés und vor dem Stade de France sieben IS-Kämpfer in die Luft gesprengt, dabei 131 Menschen in den Tod gerissen und fast 700 verletzt. Nach diesen Attentaten wurde in Frankreich der Ausnahmezustand ausgerufen – er blieb zwei Jahre lang verhängt -, und das Bild des Landes und der Gesellschaft veränderte sich von Polizeimethoden bis Parteienspektrum nachhaltig: ein nationales Trauma. Im von den Insidern »V13« genannten exemplarischen Prozess sollte dieses Trauma bearbeitet, sollten Hunderte von Perspektiven abgewogen und schließlich ein Urteil gefällt werden.
Der berühmte französische Schriftsteller Emmanuel Carrère setzte sich zehn Monate lang Tag für Tag in einen eigens für den „Jahrhundertprozess“ gebauten Gerichtssaal, auf eine unbequeme Bank, und schrieb eine wöchentliche Gerichtschronik für das Nachrichtenmagazin „L’Obs“. berichtete über Akteure, das Grauen, unverhoffte Menschlichkeit und die Maschine der Rechtsprechung. Aus diesen Essays und niedergeschriebenen Gedanken ist nun ein Buch entstanden, dass er „V13“ getitelt hat, in Anlehnung an den 13. November, ein Freitag (frz. vendredi). Das Buch ist das Porträt eines Prozesses, mit dem eine in ihren Grundfesten erschütterte Gesellschaft nach Heilung sucht. Die Bühne des eigens gebauten Gerichtssaals ließ alle Beteiligten zu Wort kommen, und so erzählt Carrère, was er gehört und erfragt hat: Wer waren die Opfer und die Täter? Wie entsteht Terrorismus? Warum ist passiert, was passiert ist?
Wie viele andere Beobachter hat er sich zu Beginn nicht viel vom Gerichtsprozess gegen die Islamisten erwartet. Viel stand für die Beobachter nicht auf dem Spiel, weil die Mörder nicht auf der Anklagebank saßen. Zudem befürchtete man bei der großen Anzahl der Nebenkläger, dass allein die Masse an Aussagen das Grauen der Nacht im Bataclan oder in St. Denis verwässern würde. Die bereits vor Prozessbeginn angekündigte historische Aufarbeitung der Taten durch das Gericht ließ auch darauf vermuten, dass es der Justiz nur darum gehen könnte, die französische Gesellschaft zu beruhigen und ihr zu zeigen, dass Rechtsstaat und Demokratie funktionsfähig sind, also eine reine PR-Show.
Dies änderte sich aber schnell, während Carrère Tag für Tag den Prozess verfolgte. Zwar blieben auch für ihn viele Fragen zum politischen, historischen Kontext und Profil der Angeklagten unbeantwortet. Erschütternd waren die Zeugnisse der Nebenkläger. Normalerweise interessiert man sich bei Prozessen weniger für die Opfer, mehr für die Angeklagten. Man will ihr Geheimnis lüften, in diesem Fall war es aber ein sehr mageres Geheimnis. Der Schriftsteller machte aber bei den Nebenklägern mit etwas Bekanntschaft, was er das „Geheimnis des Guten“ nennt. Dabei war es nichts Heroisches, das er meint, viele haben überlebt, weil sie versucht haben, ihre eigene Haut zu retten. Jedoch war er konfrontiert mit vielen Beispielen von Menschen, die hilfsbereit, großherzig und opferbereit waren. Auch die Art und Weise, wie viele vom Verlust ihrer Angehörigen, vom Über- und Weiterleben gesprochen haben, war erschütternd.
Eine Szene prägte sich Carrère besonders ein. Einer der Nebenkläger hat auf die Frage, was er sich von dem Prozess verspreche, geantwortet, er erwarte sich von der juristischen Aufarbeitung vor Gericht, dass eine kollektive Erzählung entsteht. Für ihn hat diese Aussage deutlich gemacht, dass der Prozess dazu dienen könne, durch die Zeugenaussagen einzelne Fäden zu einem Ganzen zu verbinden. Ausgehend von den individuellen Zeugenaussagen ist eine kollektive Geschichte entstanden, so furchtbar jede einzelne Stimme war, so überwältigend war der kollektive Klang.
Häufig wird bei der juristischen Aufarbeitung solcher Bluttaten behauptet, dass die Leidenschaftslosigkeit eines Gerichts das beste Gegengift gegen den Terrorismus sei. Carrère ist aber davon überzeugt, dass man durch eine Phase des Hasses gehen muss, bevor man zu dieser Art Edelmut, Großzügigkeit, vielleicht nicht Fähigkeit des Vergebens, aber doch zumindest Möglichkeit des Verständnisses kommt.
In seiner Conclusio kommt Emmanuel Carrère zu einem Punkt, an dem er einerseits die Gerichtsverhandlung als vorbildlich charakterisiert, gleichzeitig aber das Urteil scharf kritisiert. Für ihn ist es ein Widerspruch, die Kleinkriminellen, die nicht wussten, in was sie verwickelt waren, als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu verurteilen, als wären sie hochgefährliche Täter. Gleichzeitig wurden sie nur zu zwei Jahren Haft verurteilt. Der Hauptangeklagte Salah Abdeslam wurde zu lebenslang verurteilt ohne die Möglichkeit auf Haftverkürzung nach 30 Jahren. Für Carrère wäre eine solche Strafe nachvollziehbar bei einem Serientäter. Hätte der Anführer der Terrorgruppe, Abdelhamid Abaoud, überlebt und wäre auf der Anklagebank gesessen, hätte Abdeslam die realistische Chance auf ein milderes Urteil gehabt.
Trotz seiner Kritik an einigen Urteilen war es für den Schriftsteller ein vorbildlicher Prozess. Die besondere Art der juristischen Leidenschaftslosigkeit, gepaart mit dem Respekt gegenüber den Nebenklägern, sogar den Angeklagten, hatte etwas Exemplarisches. Der Chor aus menschlicher Erfahrung und Leid, aus Terror und Mitleid hat jeden Betrachter verletzlicher gemacht.
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