Libysche Warlords werden von der EU hofiert, seitdem Milizenführer wie Khalifa Haftar mit ihren Machtzirkeln die Migrationsroute von Ostlibyen nach Italien ausgebaut und damit direkten Druck erzeugt haben. Die kriminellen Machenschaften seines Clans scheinen gerade für Haftars Beziehungen mit europäischen Staaten ebenso wenig ein Hindernis zu sein wie seine mutmaßliche Verantwortung für massive Kriegsverbrechen und seine Allianz mit der russischen Söldnertruppe „Wagner“.
Die seit 2011 in Libyen entstandenen bewaffneten Gruppen haben in den letzten Jahren einen Marsch durch die Institutionen vollzogen. Mittlerweile sind ihre Vertreter sowohl in Armee und Sicherheitsapparat als auch in zivilen Regierungsämtern auf der Spitzenebene angekommen. Zugleich üben sie massiven Einfluss auf die Besetzung von Schlüsselpositionen und die Verteilung staatlicher Mittel aus. Die daraus erwachsene enge Verquickung privater Interessen mit militärischen Einheiten dürfte Libyens Politik und Sicherheitssektor auf Jahre hinweg ihren Stempel aufdrücken. Auch wenn die Beziehungen zwischen den führenden militärischen Akteuren seit Mitte 2022 von pragmatischen Arrangements geprägt sind, bergen sie weiterhin beträchtliches Konfliktpotential, da Verteilungskonflikte jederzeit in bewaffnete Konfrontationen umschlagen können. Die Konsolidierung der Privatarmeen bedeutet zudem, dass es kaum noch Perspektiven für eine Reform des Sicherheitssektors gibt. Diese Entwicklung stellt europäische Regierungen vor die Frage, wie sie mit immer mächtigeren und repressiveren Milizenführern umgehen sollen.
Die Milizenführer finanzieren sich zu einem großen Teil über den Menschenschmuggel nach Europa. Diese Kriminellen arbeiten eng mit der Grenzpolizei zusammen und können so unbehelligt Frauen, Kinder, Männer einem lebensgefährlichen Risiko aussetzen, wenn sie in Boote gepfercht werden, welche alles andere als sicher sind für eine Fahrt auf hoher See. Die meisten Schmuggler leben in zwei kleinen libyschen Orten nahe der ägyptischen Grenze. In Kambut und Bi’ral-Ashab nahe der Hafenstadt Tobruk haben Schmugglergrößen wie Muhmamed Abu Sultan das Sagen. Der Libyer ist in der Kyrenaika-Provinz als „Kaiser des Meeres“ bekannt.
Sie sollen junge arbeitslose Ägypter aus dem Nildelta, die auf ein besseres Leben in Europa hoffen, über soziale Netzwerke in die dünn besiedelte libysche Kyrenaika-Provinz locken. Auf Bauernhöfen warten nach Schätzungen libyscher Journalisten derzeit mindestens 3.000 Menschen auf die Überfahrt nach Italien. Bis zum vergangenen Sommer karrten die Menschenhändler Ostlibyens die Migranten noch in Lastwagen in die 1.300 Kilometer entfernten westlibyschen Hafenstädte Zauwia und Zuwara. Von dort erreichen selbst kleine Schlauchboote Lampedusa in einem Tag.
Die Kyrenaika liegt im Machtbereich des libyschen Milizenführers Khalifa Haftar. Der Kommandeur hatte sich dort in einem dreijährigen Häuserkampf in der ostlibyschen Metropole Bengasi gegen islamistische Milizen und Anhänger des IS durchgesetzt. Haftars Truppe bestand während des Kampfes um Bengasi aus Stadtteilmilizen, Salafisten und noch zu Zeiten des gestürzten Diktators Muammar al-Gaddafi in der Sowjetunion ausgebildeten Offizieren. Doch der Preis des Sieges gegen die Radikalen war hoch. Die gesamte Altstadt der zweitgrößten Stadt Libyens liegt seither in Trümmern. Mit Geldern aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien und Militärhilfe aus Ägypten baute der General eine auf ihn zugeschnittene Armee auf. Söldner aus dem Sudan und von der russischen Gruppe Wagner ersetzten fehlende Rekruten aus Bengasi. Doch der Feldzug gegen das konkurrierende Milizenkartell in der Hauptstadt geriet zum Fiasko. Die dortige Regierung rief die türkische Armee zu Hilfe, Haftar floh nach 18 Monaten Belagerung der südlichen Vororte von Tripolis zurück nach Bengasi.
Obwohl der Angriff auf Tripolis militärisch ein Fehlschlag war, machte er Haftar für internationale Diplomaten zum starken Mann Libyens, an dem kein Weg vorbeigeht. Und das, obwohl nach seinem Abzug aus Tripolis in der Stadt Tarhunah, wo er sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, Massengräber mit mehr als 300 Ermordeten gefunden worden waren. Der Internationale Strafgerichtshof will Anklage gegen bisher namentlich nicht genannte Verantwortliche erheben. Russische MiG-29-Kampfjets sichern zusammen mit Wagner-Söldnern weiterhin Haftars Macht. Seither führt er einen sorgfältig choreografierten diplomatischen Drahtseilakt auf.
Der Warlord ist ein gern gesehener Gast in Moskau, hat aber auch französische Spezialeinheiten im Kampf gegen Islamisten in der Sahara unterstützt. Regelmäßig sind US-Transportflugzeuge auf dem Flughafen Bengasi-Benina gelandet. Die in Syrien stationierten russischen Söldner und Soldaten nutzen die Flughäfen von Bengasi und Jufra als Zwischenstopp für ihre Flüge nach Mali. Wagner macht mit Gold, das im Sudan und Südlibyen geschürft wird, große Profite und bessert so die Goldreserven der russischen Zentralbank auf.
Weil aus Haftars Herrschaftsgebiet Fischerboote mit Migranten an Bord in Richtung Italien ablegen, ist aus dem Mann, der in Kriegsverbrechen verwickelt sein könnte, auch ein Partner der EU geworden. Anfang Mai wurde er zu einem Besuch nach Rom geladen. Seitdem seine Soldaten gegen Schleuserverstecke bei Tobruk vorgehen, sollen sie aus Europa mit Patrouillenbooten und Nachtsichtgeräten unterstützt werden. Kritiker Haftars sind sich allerdings sicher, dass die Menschenschmuggler nur mit der Zustimmung von Milizionären Boote nach Italien schicken können, Offiziere, die Khalifa Haftar unterstehen.
Westliche Diplomaten und die UN pflegten lange einen Umgang mit Haftar und anderen Milizenführern in Libyen. Gerade Haftar galt spätestens seit seinem Empfang durch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 als international hoffähig, westliche Amtsträger verliehen ihm durch zahlreiche Treffen internationale Legitimität, verlangten ihm aber im Gegenzug dafür nichts ab.
Milizenführer in Westlibyen kamen hingegen nur äußerst selten in den Genuss öffentlich bekanntgegebener Treffen mit westlichen Diplomaten. Zu ändern begann sich das im Jahr 2022, als mit Emad al-Trabelsi ein Milizenführer westlichen Repräsentanten als Innenminister entgegentrat. Im Frühjahr 2023 begann der UN-Sonderbeauftragte Abdoulaye Bathily zudem, wichtige Kommandeure aus Ost- und Westlibyen zu Treffen des gemeinsamen Militärkomitees hinzuzuziehen, das die Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens überwachen soll. Erklärtes Ziel Bathilys ist, sicherzustellen, dass die Milizenführer einen Wahlgang ermöglichen. Auch wenn er dafür bislang nur vage Zusagen erhielt, lobte er die Gewaltakteure öffentlich für ihren „patriotischen Geist“ – ein Lob, von dem die eigentliche politische Klasse nur träumen konnte.
Die dauerhafte Verfestigung der Machtstrukturen, die sich um die Milizen gebildet haben, erfordert ein Umschwenken im Umgang mit ihren Anführern. Zwar ist es ihrem Einfluss angemessen, dass sie nun auch direkt in internationale Vermittlungsversuche einbezogen werden. Eine vertane Chance ist es jedoch, ihnen durch öffentliche Treffen Legitimität zu verleihen, ohne ihnen dafür Zugeständnisse etwa im Bereich Menschenrechte abzuringen. Stattdessen sollten sich europäische Regierungen darum bemühen, der weitgehenden Straflosigkeit libyscher Gewaltakteure Grenzen zu setzen. Die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs sind wichtig, bleiben aber auf einige wenige Tatverdächtige beschränkt.
Dagegen könnte die Möglichkeit von Sanktionen auf EU-Ebene wesentlich stärker genutzt werden. Allerdings erfordert das von Deutschland und gleichgesinnten Regierungen, ihr politisches Gewicht einzusetzen, um skeptische Mitgliedstaaten zu überzeugen: besonders Italien und Malta, aber hinsichtlich Sanktionen gegen den Haftar-Clan auch Frankreich. Europäische Sicherheitsbehörden sollten zudem schärfer prüfen, ob im Ausland befindliche Vermögenswerte libyscher Akteure aus kriminellen Aktivitäten stammen. Vor allem aber sollten europäische Regierungen das Streben der Milizenführer nach Respektabilität und Legitimität als Hebel nutzen, um ihr Verhalten zu beeinflussen.
Eine öffentliche und namentliche Verurteilung von Akteuren, die für exzessive Gewaltakte, Repression oder die großangelegte Unterschlagung öffentlicher Gelder verantwortlich sind, würde Signale an alle Warlords senden.
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