Die französische Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, zu den Olympischen Sommerspielen die Elendslager von Flüchtlingen unter Brücken, an Metro-Stationen oder in Parkanlagen verschwinden zu lassen. Die Menschen werden deshalb mit Bussen in sogenannte temporäre Aufnahmezentren außerhalb der Hauptstadtregion gebracht. Doch jetzt regt sich Widerstand dagegen, dass die Migranten in die Provinz verfrachtet werden. Der Bürgermeister von Orléans, Serge Grouard, richtete eine Protestnote an den Innenminister. Seit vergangenen Mai würden alle drei Wochen 40 Personen mit Bussen nach Orléans gebracht. „Das alles geschieht im Verborgenen, ohne dass wir genau wissen, was aus diesen Menschen wird“, entrüstete sich der Bürgermeister. Die Regierung verweigere ihm eine genaue Auskunft. „Wir wissen, dass diese Menschen größtenteils Migranten sind und sie für etwa drei Wochen von einer vom Staat vertraglich gebundenen Organisation betreut werden“, sagte Grouard. Doch da die Notunterkünfte in Orléans überlastet seien, würden sie meist in Hotels untergebracht. Seit Beginn der Aktion seien etwa 500 Menschen angekommen. „Orléans ist nicht dazu berufen, den Pariser Crack-Hügel zu beherbergen“, kritisierte er.
Gemeint ist damit die berüchtigte offene Drogenszene am Nordrand der Hauptstadt, die hauptsächlich junge Männer mit Migrationshintergrund anzieht. Anfang 2020 wurde der Umschlagplatz offiziell aufgelöst, aber in Wahrheit nur in die umliegenden Viertel verlagert. Einen Aktionsplan für die Crack-Süchtigen gibt es bis heute nicht. Bürgermeister Grouard jedenfalls will nicht, dass seine Stadt das Versagen der Verantwortlichen in Paris ausbaden muss. „Das alles ist schockierend. Menschen in Städte zu verlegen, in denen sie eigentlich nicht versorgt werden können, und dies heimlich zu tun, ohne den Bürgermeister zu informieren“, sagte er im Radiosender France Bleu.
Die Regierung hat die Vorstellung zurückgewiesen, dass die Räumungs- und Verlegungsoffensive in Paris im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen steht. Vielmehr würden die Migranten im Namen der nationalen Solidarität in andere Regionen geschleust. Jeden Monat würden mehr als 2.000 Migranten aus der Hauptstadtregion Île-de-France in andere Regionen verlegt, wo neue Aufnahmeeinrichtungen entstanden seien. Die Hauptstadtregion betreue bereits durchschnittlich 120.000 Menschen pro Nacht in Notunterkünften. Dabei reichen die öffentlichen Aufnahmezentren bei Weitem nicht aus, deshalb werden Hotels zur Unterbringung herangezogen. Doch viele Hoteliers haben rechtzeitig vor den Olympischen Spielen Eigenbedarf angemeldet. Sie wollen ihre Zimmer lieber lukrativer an Olympia-Besucher vermieten.
Hilfsorganisationen beklagen das Vorgehen der Behörden. Sportlern und Besuchern aus aller Welt solle im Olympia-Sommer ein makelloses Stadtbild vorgeführt werden. „Olympia ist ein wunderschöner Lack, der die Armut verbirgt“, sagte Paul Alauzy für das Aktionsbündnis „Die Kehrseite der Medaille“. Die Räumungen der Zeltlager und anderer Behelfsunterkünfte von Migranten und Obdachlosen seien eine „soziale Säuberung, die Solidarität verschwinden lässt“. An einem Wochenende haben die Mitglieder des Kollektivs „Die Kehrseite der Medaille“ Plakate an berühmten Pariser Sehenswürdigkeiten aufgehängt. „Olympische Spiele 2024: Offene Grenzen für die Reichen, soziale Säuberung für die Armen“, steht darauf. „Wir verstehen unter sozialer Säuberung alle derzeitigen Räumungen“, sagte Antoine de Clerck, der Koordinator des Kollektivs. Diese Räumungen würden oftmals ohne konkrete Alternativlösungen für die Betroffenen vorgenommen. Derzeit würden Polizeikräfte die Viertel am Seine-Ufer durchkämmen. „Diese Vertreibungen in unmittelbarer Nähe des Seine-Flusses haben etwas mit den Olympischen Spielen zu tun“, mutmaßte Paul Alauzy und fügte hinzu, „wir wollen eine schöne Eröffnungsfeier, deshalb wird die Polizei vorgeschickt, um alles Störende zu vertreiben.“ Das Kollektiv fordert, dass eine Erstaufnahmestelle in Paris begründet wird, damit Flüchtlinge und andere Obdachlose während der Spiele einen Zufluchtsort haben.
Die Aufnahme von Migranten aus der Hauptstadt löst immer wieder Abwehrreflexe in den betroffenen Kommunen aus. In allen Landesteilen kam es zu Demonstrationen gegen neue Aufnahmezentren. Besonders gewalttätig war der Protest in Saint-Brevin-les-Pins, einer Gemeinde an der Atlantikküste, wo sich der Bürgermeister nur mit Glück aus seinem brennenden Haus retten konnte. Unkontrollierte Einwanderung ist auch das Hauptthema des Spitzenkandidaten des Rassemblement National im Europawahlkampf, Jordan Bardella. Er hat in Paris „Generalstände der Migration“ organisiert. Dabei kritisierte er die organisierte „Überflutung“ der ländlichen und kleinstädtischen Regionen mit Einwanderern.
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