Die Brexit-Befürworter versprachen eine radikale neue Zuwanderungspolitik. Sie wollten die Insel nicht nur von „Einflüssen“ vom Kontinent abschotten, sprich eine gemeinsame europäische Vision für die Menschen in Europa zunichte machen, sie plädierten auch für eine Kehrtwende in der Migrationspolitik des Königreichs. Gerade mit diesem Versprechen punkteten sie bei vielen Bürgern. Was ist nun daraus geworden?
Kürzlich erklärte der britische Premier Sunak: „Die Zahlen sind zu hoch, so einfach ist das. Ich werde dafür sorgen, dass sie sinken.“ Er reagierte auf die Veröffentlichung der Einwanderungsdaten des „Office for National Statistics“ (ONS). Ein schlechtes Urteil für einen Spitzenpolitiker, der zu den Befürwortern des Brexit gehört, denn das „Take Back Control“-Versprechen, das die Brexit-Befürworter jahrelang gebetsmühlenartig vortrugen, scheint gebrochen. Die neuen Zahlen werden in Großbritannien als Armutszeugnis der konservativen Migrationspolitik gelesen. Im vergangenen Jahr hat die Netto-Migration, also die Differenz zwischen Ein- und Auswanderung, mit 606.000 einen neuen Höchstwert erreicht. Zum Vergleich: Im Jahr 2015 vor dem Brexit-Referendum lag der Wert bei 329.000.
Überraschend ist, dass nicht etwa die von großen Teilen der britischen Regierung bezeichnete „Invasion“ der Einwanderer über den Ärmelkanal für den Anstieg der Zahlen verantwortlich ist. Die Regierung um Sunak hatte sich in den vergangenen Monaten mit harter Rhetorik und einem umstrittenen Gesetz der Eindämmung der „Small Boat“-Migranten verschrieben. Ein Großteil ist auf die Einwanderung auf legalem Weg zurückzuführen, wie die neue ONS-Erhebung zeigt.
Im Vergleich zu Vor-Brexit-Zeiten präsentieren nicht mehr legal einreisende EU-Bürger, sondern solche aus anderen Teilen der Welt das Gros der Einwanderer. Von den knapp 1,2 Millionen Menschen, die im vergangenen Jahr auf die Insel kamen, stammten 925.000 aus Nicht-EU-Ländern. Der größte Anteil (361.000) fiel auf Studierende, die meisten davon aus Indien, China und Nigeria. Rund 235.000 Nicht-EU-Einwanderer kamen zu Arbeitszwecken in das Land. Im Jahr 2021 waren es noch 61.000 Menschen.
In Großbritannien herrscht auch noch drei Jahre nach Verlassen der EU ein akuter Arbeitskräftemangel, insbesondere im Niedriglohnsektor. Denn weder Einheimische noch EU-Bürger wollen die Jobs machen. „Briten sind wenig daran interessiert, saisonal zu arbeiten, weil sie langfristige Jobs brauchen“, sagt die Direktorin des Projekts Migration Observatory an der Oxford-Universität. „Sie wollen oftmals auch nicht zu Niedriglöhnen arbeiten, insbesondere angesichts der explodierenden Lebenshaltungskosten hierzulande.“ Weil der Brexit die Einreisebestimmungen für EU-Bürger erschwert hat – sie benötigen nun ein Arbeitsvisum und können nicht mehr vom EU-Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen – kommen auch diese nicht mehr. Zudem sind die Einkommensschwellen seit dem EU-Austritt für ausländische Arbeitskräfte gesenkt worden. Dies gestalte die Arbeit für Nicht-EU-Bürger weitaus attraktiver als für solche aus der Union, weil die Löhne in ihren Heimatländern oftmals niedriger seien.
Aus den Reihen der Konservativen zeigten sich zuletzt vorsichtige Reaktionen auf die Entwicklung. Der Justizminister schlug vor, gering qualifizierte Stellen im Gastgewerbe und im Gartenbau mit ehemaligen Häftlingen zu besetzen, um die Einwanderungszahlen zu senken, die für ihre radikalen Thesen berüchtigte Innenministerin erklärte Mitte Mai, es gebe „keinen Grund“, warum nicht mehr einheimische Arbeitskräfte als „Obstpflücker“ und „Lkw-Fahrer“ ausgebildet werden könnten.
Für die konservative Regierungspartei erweisen sich die frischen Zahlen kurz nach der historischen Wahlschlappe Anfang Mai bei den Lokalwahlen als eine erneute Belastungsprobe. „Die Wut und Frustration meiner Wähler konzentrierte sich bisher auf die illegale Migration, aber das wird weiter zunehmen, wenn sie diese Zahlen zur legalen Migration sehen“, sagt ein Abgeordneter der Partei. Ein anderer Tory-Abgeordnete sagte gegenüber „Politico“: „Die Wut wird deutlich werden, wenn wir dieses Wochenende in unseren Wahlkreisen an die Türen klopfen.“
Großbritannien verzeichnet für 2023 eine Höchstzahl an Bootsmigranten, die trotz der verhältnismäßig harten britischen Abschiebepolitik den Ärmelkanal überquerten. Insgesamt waren es knapp 46.000, etwa 17.000 mehr als im Vorjahr und so viele wie noch nie zuvor. Diese Migration über den Ärmelkanal will die britische Regierung mit restriktiven Einwanderungsgesetzen stoppen.
Wer beispielsweise als Bootsflüchtling in Großbritannien ankommt, soll möglichst schnell nach Ruanda oder ein anderes als sicher geltendes Land abgeschoben werden – ohne Rücksicht auf den Flüchtlingsstatus. Bis dahin sollen die Einwanderer in Lagern, unter anderem auf Schiffen, festgehalten werden. Das Vorhaben kommt nach Ansicht von Kritikern einem Asylverbot gleich.
Das britische Parlament hatte bereits Ende April ein Gesetz gebilligt, das illegal auf Schlauchbooten einreisende Migranten von solchen Überfahrten abhalten soll. Künftig soll London verpflichtet sein, jene irregulären Einwanderer sofort in Abschiebehaft zu nehmen und ihnen die Möglichkeit zu verwehren, politisches Asyl zu beantragen. Stattdessen sollen die Migranten in ihre Herkunftsländer, oder falls das für die Betreffenden unzumutbare Gefahren birgt, in sichere Drittländer abgeschoben werden. Das Gesetz muss allerdings noch vom Oberhaus bestätigt werden, wo es noch zu einer Abschwächung der Regelungen kommen könnte.
Die britische Regierung nannte stets Ruanda als ein mögliches Zielland für Abschiebungen. Mit dessen Regierung hat ein Aufnahmeabkommen geschlossen, das nach Angaben von Innenministerin Suella Braverman „unbegrenzt“ gelten soll. Die Rückführung nach Ruanda wurde durch eine Eilentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg vorläufig gestoppt und ist auch in Großbritannien noch ein Streitfall vor Gericht. Eine Entscheidung eines Berufungsgerichts wird dazu im Sommer erwartet, voraussichtlich wird sich anschließend noch der Oberste Gerichtshof damit befassen.
Zu den im laufenden Gesetzgebungsverfahren beschlossenen Verschärfungen zählt die Klausel, dass London künftig an Abschiebungsentscheidungen auch dann festhalten soll, wenn eine Eilentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sie vorläufig unterbindet. Die Regierung kündigte andererseits in der abschließenden Debatte im Unterhaus an, sie werde die Regelungen für bestimmte Personengruppen noch entschärfen. Dazu gehören Opfer von Menschenhandel und Minderjährige.
Um wenigstens populistische Versprechen in Politik umzusetzen, verstärkt die britische Regierung ihren rigiden Kurs gegenüber Flüchtlingen: Migranten werden in Großbritannien teils auf Lastkähnen untergebracht. Trotz Kritik an dieser Praxis will Premierminister Rishi Sunak nun zwei weitere Schiffe anschaffen. Trotz internationaler Kritik an diesem Vorgehen gegen unerwünschte Migranten hält das Land an dem Verfahren fest: „Mit Mut und Entschlossenheit kann die Regierung dieses Problem lösen“, sagte Sunak. Man nutze jedes Mittel, das zur Verfügung stehe.
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