Nach dem arabischen Frühling 2011 war der politische Islam eine der lautesten Stimmen – heute wenden sich mehr junge Menschen von der Religion ab.
Sie kamen spät, profitierten aber schließlich von der Veränderung: Während Massendemonstrationen 2011 ein autoritäres Regime nach dem anderen verschwanden, fehlten die Prediger auf den Straßen, die die Gesellschaften nach dem angeblichen Willen Allahs sortieren wollten. Als die Regime von Ben Ali, Mubarak und Gaddafi versagten, übernahmen diese Kräfte die Macht teilweise in Tunesien mit der islamistischen Ennahada oder ganz wie in Ägypten, wo die Muslimbruderschaft die Präsidentschaft übernahm. Viele Experten gaben an, „ein Jahrzehnt des politischen Islam“.
Neun Jahre später beansprucht niemand mehr Einfluss oder Macht für diese Bewegung, die die Region verändert. Wieder demonstrieren Tausende in den Straßen des Sudan oder Algeriens, aber ohne religiöse Parolen. Im Irak und im Libanon singen junge Demonstranten, sie hätten genug von religiöser Politik wie von Korruption. Viele Analysen unterstreichen die Ernüchterung vieler Gesellschaften zwischen Maghreb und Mashrek hinsichtlich des Postulats „Die Lösung ist nur der Islam“.
Besonders die junge Generation bezweifelt die Theorie, dass die islamische Welt gegen weltliche Tendenzen immun ist. Die arabische Jugendumfrage, bei der 3.300 junge Erwachsene unter 24 Jahren aus 15 arabischen Ländern befragt wurden, zeigt eine dramatische Verschiebung in ihrem Bericht von 2019: Zwei Drittel geben an, dass Religion zu viel Einfluss hat, während im Bericht 2015 nur 50% zustimmten. Auch die Hälfte der Teilnehmer unterstreicht die Meinung, dass der Islam eine positive Entwicklung in der arabischen Welt behindert.
Das arabische Barometer von Princeton und der Michigan University unterstreicht die obigen Zahlen auch innerhalb der älteren Generationen: Das Vertrauen in theologische Autoritäten nimmt ab. Nur 40% vertrauen religiösen Führern (2013 53%). Das Wachstum derjenigen, die angeben, nicht religiös zu sein und damit eines der wichtigsten Tabus der Region zu brechen, scheint mit 13% im Jahr 2019 gering zu sein, verglichen mit 8% im Jahr 2013. Bei Betrachtung der Statistiken der Generationen unter 30 Jahren ist dies jedoch anders Bild ergibt sich: Heute sagen 50% der jungen Tunesier, ein Drittel der Libanesen und 20% der Ägypter, dass Religion in ihrem Leben keine Rolle spielt. In der Türkei, wo Erdogan 2012 die „Erziehung einer frommen Generation“ ankündigte, kann ein Verzicht überwacht werden: Die Zahl der Gläubigen nimmt ab, nur 51% stimmen noch zu, religiös zu sein.
Kein weltliches Alter, aber signifikante Veränderungen
In Ländern wie dem Irak, dem Libanon oder Bahrain mit einer hohen Anzahl schiitischer Muslime waren Umfrageteilnehmer mit schietischem Hintergrund vertreten. Aber im wichtigsten schiitischen Land Iran ist eine solche Umfrage unmöglich, weil der politische Islam eine staatliche Doktrin ist. Experten behaupten sogar, dass die iranische Bevölkerung dem religiösen Diktat den Rücken kehrt. Ein wahrscheinlich städtisches Phänomen könnte sein, dass Frauen die Vertuschungslehre in Frage stellen. Aber zumindest ist es ein Symptom für eine Veränderung, selbst in einem Land wie dem Iran.
Die Ausrufung eines säkularen Zeitalters ist noch zu früh, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Religion für die jüngere Generation mit zunehmendem Alter wieder wichtig werden könnte. Wissenschaftler wie Michael Robbins vom Arabischen Barometer geben jedoch an, dass ihre Daten ein Indikator für „signifikante Veränderungen in den kommenden Jahren“ sein könnten. Angesichts der Popularität islamistischer Parteien rutschen viele frühere Fakten ab: Laut Arab Barometer ist ein Fünftel der Araber Die Bevölkerung unterstützt sie immer noch – 2013 haben 35% dies getan.
Aber auch geopolitisch scheint der politische Islam seinen Halt zu verlieren. Die lang anhaltende Krise zwischen Schiiten und Sunniten in der Golfregion, ein inner-sunnitischer Konflikt, wurde wichtig: Während die Türkei und die Golfstaaten in der Vergangenheit als „Entente“ in Bezug auf den Konflikt in Syrien auftraten und islamistische und dschihadistische Rebellen unterstützten, wurden sie wurde jetzt Feinde.
Wie Katar unterstützt Erdogans Türkei jetzt offen Gruppen in der Nähe der Muslimbruderschaft. Diese Gruppen sind nicht demokratisch, nutzen jedoch demokratische Wahlen, um an die Macht zu gelangen und das politische System zu verändern. Unterdessen sehen die Monarchien in Saudi-Arabien, die Emirate, die behaupten, Erdogan wolle ein neo-osmanisches Reich erfinden, diese Bewegungen als Rivalen und Gegner ihrer selbst nicht existierenden pseudodemokratischen Mächte. Im Gegensatz zur Ideologie der Muslimbruderschaft dient Religion für sie nur als Mittel für ihre Herrschaft.
Begonnen in Ägypten, heute in Libyen, versuchen die kurdisch kontrollierten Regionen in Syrien und im Palästinenserkonflikt beide Seiten, den Gegner zu schlagen. Mal durch Diplomatie, mal mit Geld- und Waffenlieferung, mal durch Export von Milizen. Anstatt den politischen Islam zu unterstützen, halten sich die führenden sunnitischen Mächte gegenseitig zurück. Bedeutet dies folglich ein „Jahrzehnt des Säkularismus“? „Allahu a’lam“ ist ein Sprichwort, das auch von vielen gemäßigten Muslimen verwendet wird. „Nur Gott weiß, was am besten ist.“
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