Das Wahljahr im Vereinigten Königreich macht alle Akteure hektisch. Die regierenden Konservativen, die in Meinungsumfragen weit abgeschlagen den hinteren Platz einnehmen, die Labour-Opposition, die zwar seit Monaten immer ca. 20 Prozentpunkte über der Regierung steht. Aber für die Sozialdemokraten wird es seit Herbst letzten Jahres zunehmend eng, und zwar innerparteilich.
Ihr Vorsitzender Keir Starmer steht unter Druck: Einerseits, dass er immer wieder Positionen aus dem Parteiprogramm aufgibt, bevor diese sich im Wahlprogramm wiederfinden, aber auch dafür, dass er gelegentlich Positionen hält, denen große Teile seiner Partei nicht länger folgen wollen. Die jüngste Kurskorrektur betrifft die Frage des Israel-Palästina-Konflikts. Schon kurz nach dem Terrorangriff der Hamas in Israels Süden und dem Beginn der israelischen Gegenoffensive in Gaza mehrten sich die Stimmen in der Labour-Partei, die für einen sofortigen Waffenstillstand plädierten. Am Rande des Herbst-Parteitags von Labour organisierten Gewerkschaften und die „Labour-Freunde für Palästina und den Nahen Osten“ ein halbes Dutzend Solidaritäts-Debatten und Kundgebungen.
Dieser Freundeskreis umfasst 92 Unterhaus-Abgeordnete von Labour, das ist die knappe Hälfte der Fraktion. Die Labour-Vereinigung „Freunde Israels“ hat nur 55 parlamentarische Mitglieder, Starmer selbst gehört beiden Gruppierungen an. Er blieb aber gegen den Protest aus Teilen seiner Partei bei der Haltung, Israel habe das Recht auf ein offensives Vorgehen in Gaza, um sich zu verteidigen. Ein dauerhafter Waffenstillstand werde gegenwärtig vor allem der terroristischen Hamas nützen, humanitäre Feuerpausen seien jedoch wünschenswert.
Schon in den ersten Wochen legten mehrere Dutzend muslimische Kommunalabgeordnete von Labour daraufhin aus Protest ihre Mandate und Ämter nieder, im Unterhaus stellte die Partei der Schottischen Nationalisten die Forderung nach einem Waffenstillstand zur Abstimmung. 56 Abgeordnete, mehr als ein Viertel der Labour-Fraktion, stimmten dieser Entschließung zu, unter ihnen auch acht Mitglieder aus Starmers Schattenkabinett.
Zu ihnen zählten die Abgeordneten Shah, Qureshi und Khan, deren Wahlkreise in nordenglischen Industriestädten liegen, in denen der muslimische Bevölkerungsanteil besonders groß ist. Khan führte einst die Parteivereinigung „Labour Muslim Network“, der viele muslimische Labour-Mitglieder und mehr als 500 ihrer kommunalen Abgeordneten angehören. Der aktuelle Vorsitzende hat jetzt öffentlich Alarmrufe ausgestoßen: Labour sei dabei, die feste Unterstützung der Muslime zu verlieren. Eine Umfrage, die von seiner Vereinigung beauftragt wurde, stellte fest, die Zustimmung habe sich halbiert. Während 2019 noch 86 Prozent der Befragten angegeben hätten, sie hätten Labour ihre Stimme gegeben, würden sich jetzt nur noch 43 Prozent der Muslime für Labour entscheiden. Die Bewertung des Krieges in Gaza durch die Labour-Parteiführung habe „Ärger, Ablehnung und ein Gefühl des Betrogenseins“ gegenüber der Labour-Partei erzeugt.
Überall im Land tauchen nun in Wahlkreisen mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil unabhängige Kandidaten zur Unterhauswahl auf, die den enttäuschten Labour-Wählern eine Heimat bieten wollten. Sie stehen meist in Verbindung mit einer politischen Initiative namens „The Muslim Vote“, die die vier Millionen Muslime in Großbritannien aufrufen will, bei der Unterhauswahl jenen Labour-Abgeordneten die Stimme zu verweigern, die sich im November nicht für die Pro-Waffenstillstand-Entschließung einsetzten. Stattdessen würden Kandidaten empfohlen werden, die sich als Freunde Palästinas erwiesen.
Die Labour-Parteiführung kann die Abkehr muslimischer Wähler nicht erst bei den Wahlen zum Unterhaus, also wahrscheinlich im Herbst diesen Jahres, Stimmen kosten, sondern schon bei den in zwei Monaten abzuhaltenden Kommunalwahlen im Mai, bei denen unter anderem der Londoner Stadtrat und der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan zur Wiederwahl stehen. Khan hat schon deutlich die Route der Freunde Palästinas eingeschlagen und die Forderungen nach einem Waffenstillstand unterstützt. Auch der Anführer der schottischen Labour-Partei, Anas Sarwar, hat in der Gaza-Frage schon bald Starmers Festlegungen verlassen: Er wirft mittlerweile dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu vor, dieser nutze die Offensive in Gaza „als Waffe in seinem eigenen politischen Kampf“. Sarwar steht in Schottland im politischen Wettbewerb mit dem gleichfalls muslimischen Parteichef der Schottischen Nationalisten, Humza Yousaf, dessen Schwiegereltern zu Beginn des israelischen Angriffs im Gazastreifen feststeckten.
Es sind also nicht die Tories, die ohnehin kaum schottische Unterhaus-Wahlkreise halten, sondern die schottischen Nationalisten der Hauptgegner von Labour.
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