Der Antisemitismus von islamistischer Seite wurde lange totgeschwiegen. Dies hat mehrere Gründe: einmal, um Muslime nicht unter Generalverdacht zu stellen und kein Wasser auf rechte Mühlen zu leiten. Außerdem wollte man nicht zum Muslimfeind abgestempelt werden. Allerdings sollte man dann auch hier erwähnen, dass mit einer solchen Argumentation auch der „hausgemachte“ Antisemitismus – von links oder rechts – unter den Teppich gegehrt werden könnte: Man will ja nicht generellnden Deutschen, Österreicher oder Franzosen unter Generalverdacht stellen
Zudem vermittelte die Kriminalstatistik, die rund 82 Prozent der antisemitischen Straftaten EU-weit dem Rechtsextremismus zuwies, den Eindruck, die muslimische Spielart des Antisemitismus sei nur eine Randerscheinung. Sie schlug allerdings alle unklaren Fälle, und das sind die meisten, pauschal dem Rechtsextremismus zu. Dieser vorsätzliche Sehfehler wurde vor zwei Jahren korrigiert, es wird aber noch dauern, bis sich die Änderung auf die Statistik auswirkt, und auch dann bleibt das Problem, dass das Motiv antisemitischer Straftaten oft nicht klar erkennbar ist.
Spätestens seit dem breiten Applaus für das Hamas-Massaker wird relativ offen über das Phänomen des muslimischen Antisemitismus geredet, ganz einfach deshalb, weil es nicht mehr ignoriert werden kann. Aus Studien und Umfragen geht klar hervor, dass Antisemitismus in islamischen Ländern besonders stark verbreitet ist. Nach der Umfrage der Anti-Defamation League von 2014/15 stimmten 65 Prozent der Befragten in arabischen Ländern etwa der Aussage zu, die Juden seien für alle Übel der Welt verantwortlich, im Vergleich zu zwanzig Prozent in Europa. Dort ist der muslimische Antisemitismus zwar weniger stark, jedoch sind antisemitische Einstellungen unter Muslimen aber auch in Europa rund doppelt so häufig anzutreffen wie unter Nichtmuslimen. Die Forschung ist sich in dieser Frage relativ einig, wenngleich es einen Mangel an Vergleichsstudien jüngeren Datums gibt. Gestritten wird über die Gewichtung des religiösen Faktors.
Laut statistischer und umfragbasierter Daten ist die muslimische Identität noch vor der nationalen Herkunft der zentrale Einflussfaktor. Hier ist zu bedenken, dass islamischer Antisemitismus meist als wirres Ideenbündel in Erscheinung tritt. Zu den zentralen, einander vielfältig überlagernden Einflussfaktoren gehören der (eher säkulare) Panarabismus, eine antisemitische Staatspropaganda, religiöse Herleitungen oder eine antisemitische Alltagskultur. Der Nahostkonflikt spielt eine prominente Rolle, darf aber nicht überschätzt werden, weil islamischer Antisemitismus nicht auf die arabische Welt beschränkt sei.
Man kann dies als Hinweis auf das starke Gewicht der Religion nehmen, jedoch kommt es auf die Auslegung an. Unter strenggläubigen Sunniten gibt es laut interdisziplinärer Forschung beispielsweise mehr Antisemitismus als unter den moderaten Aleviten, die allerdings von vielen als Häretiker betrachtet werden. Dogmatische Auslegungen befördern also Antisemitismus. Man muss dazu sagen, dass sie in der islamischen Welt weit verbreitet sind. Im Koran überwiegen zwar die judenfeindlichen Passagen, er gibt aber keine eindeutige Lesart. Fest steht, dass sich fast alle Juden aus islamisch geprägten Ländern zurückgezogen haben, die dort einmal in großer Zahl lebten.
Manche Wissenschaftler vertreten die Deutung, muslimischer Antisemitismus in Europa sei die Folge von Diskriminierungserfahrungen. Das verträgt sich jedoch schlecht mit dem starken Antisemitismus in den Herkunftsländern. Es stimmt zwar, dass das Gefühl der Marginalisierung antisemitische Einstellungen begünstigt. Außerdem wirkt der Antisemitismus der Aufnahmegesellschaft auf den muslimischen Antisemitismus ein, er gehe aber nicht darin auf.
Im Kern ist der islamische Antisemitismus ein Amalgam aus antijudaischen Motiven aus der islamischen Frühzeit und dem importierten Antisemitismus aus Europa. Das religiöse Motiv rührt von Mohammeds Kampf gegen die Juden in Medina, der mit der Vernichtung eines jüdischen Stammes endete. Von hier haftet Juden der Ruf der Feigheit und Schwäche an. Außerdem werden Juden im Koran als Verführer und Fälscher der heiligen Schriften bezeichnet. Das hat lange Jahrhunderte des relativ friedlichen Zusammenlebens nicht verhindert, mit der Einschränkung, das Juden als Dhimmis in islamischen Ländern Menschen zweiter Klasse waren. Ein goldenes Zeitalter hat es nie gegeben, auch in der islamischen Welt kam es zu antijüdischen Pogromen. Trotzdem hatten die Juden dort ein besseres Leben als im christlichen Abendland.
Seine aktuelle Gestalt gewann der islamische Antisemitismus erst, als er sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem europäischen Antisemitismus verband und das Motiv der jüdischen Weltverschwörung aufnahm. Neben den schwachen, unterlegenen Juden der religiösen Überlieferung trat nun der bedrohliche, übermächtige Verschwörer. Dies ging stark auf den Einfluss der Nationalsozialisten zurück, die mithilfe der Araber die Juden im Nahen Osten vernichten und einen Staat Israel verhindern wollten. Die Araber wollten wiederum mit deutscher Hilfe die britischen Besatzer abschütteln. Der importierte Antisemitismus ist damit auch ein Rückimport, besonders aus der NS-Zeit.
Die in den Zwanzigerjahren entstandene Muslimbruderschaft, die ebenfalls mit den Nazis kooperierte, führte die Linie weiter. Die Niederlagen der arabischen Staaten in den Kriegen mit Israel steigerten die Empfänglichkeit für das Verschwörungsmotiv und verschränkten den islamischen Antisemitismus mit dem Nahostkonflikt. Kaum überschätzt werden kann der Einfluss von Sayyid Qutbs Schrift „Unser Kampf mit den Juden“. Qutb, ideologischer Vordenker der Muslimbruderschaft, prägte darin die Vorstellung von der natürlichen Feindschaft von Juden und Muslimen. Die Linie lässt sich bis heute weiterverfolgen. Die Hamas, ein Zweig der Muslimbruderschaft, ist der Musterfall dieser Ideologie. Ihre Gründungscharta verbindet die religiös begründete Aufforderung zur Tötung der Juden mit dem europäischen Verschwörungsmotiv. Die Muslimbruderschaft hat auch in Europa ihre Dépendancen. Sie sucht dort aber nicht über Terror, sondern klandestin über Bildung und Medien Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Hier gibt es gewaltigen Forschungsbedarf.
In der Vergangenheit traf die Erforschung von muslimischem Antisemitismus oft auf Widerstand. Schnell war man mit dem Vorwurf bei der Hand, Wissenschaftler machten sich schon durch den Hinweis auf das Phänomen mit rechter Propaganda gemein, oder man sucht nur einen Vorwand, um vom Antisemitismus hierzulande abzulenken. Andere stießen sich am Begriff islamischer Antisemitismus. Dieser bedeutet jedoch nicht, dass der Islam per se antisemitisch sei, sondern stellt auf die religiöse Ursache ab. Manche ziehen es vor, von Antisemitismus unter Muslimen zu sprechen. Das meint jedoch etwas anderes, nämlich antisemitische Einstellungen von Muslimen, die nicht religiös begründet sein müssen. Meistens hat man es mit Mischformen zu tun.
In islamistischen Organisationen ist Antisemitismus besonders weit verbreitet, weshalb manche lieber von islamistischem Antisemitismus sprechen. Muslimischer Antisemitismus ist aber nicht auf den Islamismus beschränkt, sondern in vielen Staaten des Nahen Ostens ein Alltagsphänomen. Antisemitische Stereotypen finden in wissenschaftliche Publikationen und bis hinein in politische Programme. Man darf nicht vergessen, dass die „Protokolle der Weisen von Zion“, die bekannteste antijüdische Hetzschrift, in arabischen Ländern zu den Bestsellern gehört.
Zwischen Politik und Religion kann auch deshalb nicht klar unterschieden werden, weil die Antisemiten es selbst nicht tun. Antiisraelische oder propalästinensische Demonstrationen sind oft Foren eines religiös unterlegten Judenhasses, und die Schuld am Nahostkonflikt wird Juden in aller Welt zugeschoben. Angesichts des breiten Unwissens kann durch Bildung viel erreicht werden. Sie ist für Teile von Wissenschaft und Politik allerdings auch eine Selbstaufklärung über eigene Versäumnisse.
Der Arm des Islamismus und des mit ihm verbundenen Antisemitismus reicht bis in Politik und Wissenschaft hinein und wird über Projekte, die sich links und rassismuskritisch geben, fortgeführt. Wenn, wie beispielsweise in Deutschland geschehen, die direkte Vertretung des iranischen Mullah-Regimes an der Gestaltung des Religionsunterrichts beteiligt wird oder dem Islamunterricht eine sunnitische Stiftung vorsteht, die liberalen Theologen die Lehrerlaubnis verweigert, ist Aufklärung ebenso wenig zu erwarten wie von Wissenschaftlern, die ihre BDS-Sympathien pflegen.
Nie-wieder-Rufe werden nicht ausreichen, um das Problem in den Griff zu kriegen. Die Politik darf dem Islamismus nahestehende Institutionen nicht mehr mit Fördergeldern überschütten, dem abstrusen Mantra folgend, Islamismus sei mit der Hilfe von Islamisten zu bekämpfen. Vor allem aber muss das ewige Beschwichtigen und Kleinreden ein Ende haben durch eine Politik, die nur ihren lieben Integrationsfrieden will und dafür die Unterstützung der Wissenschaft sucht, die sich teils dafür einspannen lässt, weil sie dafür reich entlohnt wird. Von Frieden ist nicht zu sprechen, wenn auf Straßen und Plätzen in Europa „Tod den Juden“ gerufen wird.
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