Von Frederic Mayne, London
Der Niedergang des Assad-Regimes in Syrien nach Jahrzehnten brutaler Diktatur wird die Geopolitik der Region grundlegend verändern, denn Syrien ist in der Tat zentral für den Nahen Osten. Das liegt zum einen an der geografischen Lage des Landes, eingerahmt von der Türkei, dem Irak, Jordanien, Israel und Libanon, sozusagen im Herzen des Nahen Osten. Und es liegt zum anderen an der Schwäche Syriens, das zum Gegenstand regionaler Macht- und Einflusspolitik geworden ist. Der Bürgerkrieg, der 2011 begann, hat es Russland seit seiner Intervention im September 2015 erlaubt, wieder eine wichtige Rolle in der Region zu spielen, als Beschützer des Assad-Regimes. Er hat es Iran als dem zweiten Beschützer der Diktatur in Damaskus erlaubt, eine Einflussbrücke aufzubauen: über den Irak, wo Iran erheblichen Einfluss auf Milizen hat, nach Syrien und von dort bis nach Libanon, wo Iran seit vielen Jahren in den Aufbau des Hizbullah investiert hat. Das Machtvakuum in Syrien, das durch den Bürgerkrieg entstand, wurde mithin gefüllt von zwei Mächten, die grosse Ambitionen in der Region haben. Beide, Russland und Iran, wollen Amerika als Vormacht beerben, den langjährigen Hegemonen, der sich nach grossen Frustrationen über eine gescheiterte Transformationspolitik insbesondere im Irak aus der Region zurückziehen will.
Dass Barack Obama erst eine rote Linie in Syrien zog, sie aber anschließend wieder zurücknahm und auf eine Intervention verzichtete, signalisierte allen Playern die Schwäche Amerikas. Zugleich drückten die USA unter Obama und auch unter Biden beide Augen zu, als Iran sein regionales Hegemonialprojekt zielstrebig weiter verfolgte und seine Stellvertreter-Milizen aufrüstete: vom Hizbullah über die Hamas und Huthi bis hin zu Milizen im Irak. Washington konzentrierte sich ganz auf den Versuch, zu verhindern, dass Iran sich nuklear bewaffnet. Um hierbei weiterzukommen, lockerten Obama und Biden die Sanktionen, was genügend Geld in die Taschen des iranischen Regimes spülte, um seine regionale Dominanzstrategie weiter verfolgen zu können.
Bis vor kurzem sah es so aus, als wäre Iran erfolgreich. Es führte nicht nur sein Nuklearprogramm immer weiter – zwei Schritte vorwärts, einen zurück –, sondern baute auch moderne Raketen, mit denen es seine Stellvertreter-Milizen aufrüstete. Ein Szenario, bei dem die israelische Raketenabwehr durch den konzentrierten Angriff von allen Seiten überwunden würde, schien in den Bereich des Möglichen zu rücken. Zugleich näherte sich Iran Russland und China an. Teheran lieferte Russland Drohnen für seinen Krieg gegen die Ukraine, während China zum wichtigsten, fast alleinigen Abnehmer von iranischem Öl aufstieg. Moskau und Peking nahmen Iran auch in ihre „Clubs“ auf – im Juli 2023 trat Iran der eurasischen Shanghai Cooperation Organization und am 1. Januar 2024 den Brics bei. Damit rückte für den Westen die Möglichkeit, Iran erneut zu isolieren und mit Sanktionen zu belegen, in weite Ferne. Statt als Einzelkämpfer zu agieren, ist Iran heute eng verbunden mit zwei anderen Mächten, die ebenfalls die amerikanische Präsenz in ihrer Nachbarschaft bekämpfen, Russland und China.
Die USA hatten dem Ausbau der regionalen Macht Irans weitgehend tatenlos zugesehen. Washington konzentrierte sich auf den Schutz seiner Hauptverbündeten: Israel in erster Linie, die Golfstaaten in zweiter Linie. Trump versuchte in seiner ersten Amtszeit, eine Aussöhnung zwischen Israel und den arabischen Nachbarn hinzubekommen. Biden führte dieses Projekt weiter. Die Verhandlungen über ein Dreier-Abkommen zwischen den USA, Israel und Saudi-Arabien verliefen offenbar recht erfolgreich. Es schien, als würde sich die Situation in Richtung einer Art Kalten Krieges hinbewegen: auf der einen Seite ein von den USA gestützter Block, auf der anderen Seite Iran mit seinen Einflusszonen. Der 7. Oktober 2023, der Angriff der Hamas auf Israel, warf all dies über den Haufen. Er setzte eine Kette von Ereignissen in Gang. Als deren Ergebnis verlor Iran seine regionale Machtstellung weitgehend, nachdem Teheran Israel durch seine Stellvertreter wie auch selbst direkt attackiert hatte. Israel hat sich militärisch klar durchgesetzt und Iran dabei erheblich geschwächt.
Die Schwächung Irans hat wiederum die Türkei stark gemacht. Erdogan war einer der wichtigsten Unterstützer der Rebellen im syrischen Bürgerkrieg. Er hat es ihnen ermöglicht, im Nordwesten Irans, in der Nachbarschaft der Türkei, in Idlib, einen Quasi-Staat aufzubauen. Dieser bildet jetzt offenbar den Kern des Post-Assad-Syrien. Von Idlib aus brachen die Rebellen nun auf, um ihre Position zu stärken – und stiessen auf fast keinen Widerstand. Weil seine beiden Patrone und Beschützer, Russland und Iran, nicht in der Lage waren, ihn ein weiteres Mal zu retten, musste Assad aufgeben.
Der Zusammenbruch des Assad-Regimes definiert das machtpolitische Spielfeld in der Region neu. Keiner weiss, wie sich die Lage im Land entwickeln wird. Alle wurden überrascht von den Ereignissen, vermutlich auch die Rebellen selbst. Klar war im Voraus, dass das Regime schwach ist, nicht aber, dass es derart morsch sein würde. Alle wichtigen Akteure in der Region hatten sich mehr oder weniger mit dem Assad-Regime arrangiert. Die Golfstaaten waren auf dem Weg der Normalisierung. Das galt selbst für die Türkei, die sich um Verständigung über gemeinsame Interessen bemühte, insbesondere die Rückkehr der Millionen von Flüchtlingen, die die Türkei aufgenommen hatte. Selbst die USA hofften zuletzt darauf, Assad dazu zu bringen, den iranischen Einfluss zu verringern.
In der völlig neuen Lage nach dem Sturz des schwachen Diktators versucht jetzt jeder Akteur, seine Interessen zu wahren. Iran ist dabei in der schwächsten Position. Es ist verhasst in Syrien. Und Israels Militäroperationen hatten es bereits erheblich geschwächt. Dass Iran durch Syrien einen Zugang zu Libanon bekommen wird, um dort den ältesten Stellvertreter-Alliierten wieder aufzubauen, ist höchst unwahrscheinlich.
Russland hat zwar auch Assad gestützt und ihn nun sogar aufgenommen. Die russischen Luftangriffe auf die Rebellen, auch auf Krankenhäuser, waren brutal und gefürchtet. Doch es ist noch nicht ausgemacht, ob die neuen Machthaber nicht vielleicht doch einen Deal mit Moskau machen, der es Moskau erlauben würde, seine Militärbasen im Land zu behalten. Moskau könnte für die neue Regierung wichtig sein, weil es im Uno-Sicherheitsrat die Aufhebung der Terrordesignation der Rebellenorganisation HTS blockieren könnte. Und Russland hat im Zusammenhang mit dem Astana-Prozess seit 2017 mit verschiedenen bewaffneten Gruppen im Lande gearbeitet und hat deswegen viele Kontakte.
Klarer Gewinner ist die Türkei. Erdogans Unterstützung der Rebellen hat sich am Ende doch noch ausgezahlt. Der Einfluss der Türkei auf das neue Syrien dürfte erheblich sein. Inwieweit jetzt der Konflikt mit den syrischen Kurden eskaliert, die ein Autonomiegebiet im Norden Syriens aufgebaut haben, wird zu sehen sein. Hier kommen die Amerikaner ins Spiel. Sie beschützen nicht nur die Kurden, sondern haben auch grosse Sorge, dass Tausende radikalislamische IS-Kämpfer, die dort gefangen gehalten werden, freikommen könnten.
Für Israel ist die Entwicklung grundsätzlich positiv. Iran ist geschwächt, seine Verbindung zur Hizbullah erheblich erschwert. Israel hat sich als führende Militärmacht der Region behauptet. Doch Israel hatte sich auch mit dem Assad-Regime arrangiert. Seinen Sicherheitsinteressen tat es durch regelmässige Militärschläge auf iranische Aktivitäten in Syrien Genüge. Die Lage schien stabil. Jetzt besteht in Israel die Sorge, dass in Syrien ein radikal-islamistisches Regime an die Macht kommt. Um die Gefahr, dass sich Syrien in Zukunft militärisch gegen Israel wendet, zu verringern, hat Israel mit massiven Luftangriffen in den letzten Tagen die Angriffsfähigkeit Syriens erheblich verringert. Und es hat die strategisch wichtige Pufferzone zwischen den beiden Ländern auf den Golanhöhen besetzt.
Wo sich die Trump-Regierung genau positioniert, ist noch nicht klar abzusehen. Die USA bleiben die außenstehende Macht mit dem grössten Potenzial, die Geschicke der Region zu steuern. Doch zugleich sind sie seit dem Misserfolg im Irak ein vorsichtig und würden sich lieber früher als später aus der Region verabschieden. Ob es unter Trump zu einer kraftvollen amerikanischen Nahostpolitik kommt, die zu Investitionen in die regionale Sicherheit bereit ist, erscheint zweifelhaft. Wahrscheinlich ist, dass das Dreier-Abkommen mit Saudi-Arabien und Israel weiter verhandelt wird. Wahrscheinlich ist auch, dass Trump irgendwie versuchen wird, mit Iran ins Geschäft zu kommen. Für Syrien könnte gelten, was Trump in Grossbuchstaben Ende letzten Jahres in den sozialen Netzwerken verkündet hat: Amerika solle sich nicht einmischen.