Auch wenn der Gründer der modernen Türkei noch immer in seiner Heimat zu bestimmten Festtagen geehrt wird, scheint sein Ansehen zu schwinden. Vielleicht nicht bei den Anhängern der kemalistische CHP, jedoch bei denjenigen, die von einer Türkei schwärmen, in der es zu einer erneuten Verschmelzung zwischen Staat und „Staats-„religion, dem Islam, kommen wird. Der Protagonist dieser Türkei, wie kann es anders sein, ist natürlich Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Das spezielle türkische Verständnis von Nation wurde von Atatürk anders definiert als vom neuen Sultan in Ankara. Der Gründer der modernen Türkei wollte das zerfallende Osmanische Reich zu einer neuen, eigenständigen Nation zusammenführen. Eine große Aufgabe, denn das Gebiet war ein Vielvölkerstaat mit schätzungsweise mehr als 40 ethnischen Gruppen. Atatürk entschied sich damals gegen ein Nationalverständnis, das auf Ethnie oder Rasse beruht. Seine Kriterien waren die gemeinsame Geschichte, das Gefühl sowie der Wille, Teil der neuen Republik zu sein. Rassismus ist dem originalen Nationalismus deswegen fremd. Daneben spielten aus praktischen Gründen der Aufenthalt im Staatsgebiet und Türkisch als einheitliche Sprache eine Rolle.
Atatürk kämpfte auch gegen die Kräfte von außen: Das westliche Ausland wollte die geostrategisch wichtige Region nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs unter sich aufteilen. Im Unabhängigkeitskrieg versammelte Atatürk ab 1919 dann den Großteil der Bevölkerung hinter sich und schwor ihnen ein, gegen die Zersplitterungsversuche des Auslands nicht nur zu kämpfen, sondern bereit zu sein, für diesen Kampf zu sterben. Vor genau 100 Jahren erreichte Atatürk sein Ziel: Er rief die Türkei als Republik aus. Und mit ihr den Nationalismus, dessen Hauptfunktion seitdem ist, der Bevölkerung eine neue Identität zu geben und die Einheit des Landes zu bewahren. Was die Türken auch einte, war eine Republik, die laizistisch sein soll – also basierend auf einer Trennung von Kirche und Religion. Das änderte sich unter Erdogan, der das Machtinstrument des politischen Islam für sich nutzte.
Der Systemstreit in der Türkei um die Identität der Nation lässt sich daher auf folgenden Gegensatz komprimieren: Erdogans System des politischen Islams oder aber die Rückbesinnung auf die Werte Atatürks. Mit der Reideologisierung von Religion und Nation durch den Staatspräsidenten und Chef der islamistischen AKP wurde Atatürk mit seiner Staatsdefinition vom Sockel gestoßen.
Erdogan geht bei Feiertagen nicht mehr, wie es noch seine Vorgänger gemacht haben, auf die Erfolge der modernen Türkei ein. Vielmehr spricht er nur noch von den türkischen Schlachten, die die osmanischen Herrscher ausfochten: die Schlacht bei Manzikert, in der die Seldschuken im Jahr 1071 die Truppen des Byzantinischen Reiches zurückschlugen, die Schlacht bei Mohács, in der die Armee des Osmanischen Reiches 1526 dem ungarischen Heer eine schwere Niederlage zufügte. Erdogan sieht sich selbst in einer Linie mit den Herrschern der Osmanen und Seldschuken. Die Republik sei nur das letzte Glied in einer Kette früherer Reiche, sagte er.
Im Gegensatz dazu hatte Atatürk seine Republik einer Kulturrevolution unterzogen, um sie von der osmanischen Vergangenheit scharf abzugrenzen. Säkular, modern und westlich orientiert sollte sie sein. Wenn es ihm in den Kram passt, kann der neue Sultan aber auch zurückkehren zu Atatürk. Natürlich nur dann, wenn er selber im Vordergrund strahlen kann. In einer Grußbotschaft verglich er den Unabhängigkeitskampf Atatürks 1922 mit einem Ereignis aus seiner eigenen Regierungszeit: der Vereitelung des Putschversuchs von 2016. Damit formulierte er den Anspruch, für die historischen Geschicke des Landes eine ebenso einschneidende Bedeutung zu haben wie Atatürk. Bei der Feier am Präsidentenpalast wurde ein Video eingespielt, in dem türkische Soldaten im In- und Ausland, von Irak bis Libyen, ihre Bereitschaft versicherten, die Befehle des Präsidenten auszuführen. Früher waren die Streitkräfte am Tag des Sieges noch selbst als Gastgeber aufgetreten. Zu Beginn seiner Regierungszeit musste Erdogan noch fürchten, von den Generälen, die sich als Gralshüter des Kemalismus verstanden, aus dem Amt gedrängt zu werden. Zunächst beschnitt er deren Einfluss mithilfe der EU. Der Putschversuch von 2016 erlaubte es ihm endgültig, „die türkischen Streitkräfte zu säubern“, wie er es selbst formulierte. Die zusammengestutzte Rolle des Militärs im Innern wurde besonders sichtbar, als die Soldaten bei der Erdbebenkatastrophe im Februar nicht als Helfer in den Erdbebengebieten eingesetzt wurden – sehr zum Unverständnis großer Teile der Bevölkerung.
Laut Erdogan ist das Ansehen des Militärs unter seiner Führung in den vergangenen 21 Jahren „nur gewachsen“. Zum Beleg verwies er auf die erfolgreiche Entwicklung einer eigenen Rüstungsindustrie. Er erwähnte nicht, dass dem türkischen Militär die Kontrolle über das Rüstungswesen entzogen und dem Präsidentenpalast unterstellt wurde.
Niemand mehr hat in der Türkei eine Mehrheit ohne die Nationalisten. Es ist der Triumph einer politischen Strömung, die in den frühen Erdogan-Jahren am Abklingen war. Die Grauen Wölfe mit ihrem faschistischen Gedankengut stammen aus den 70er-Jahren. Als Erdogan an die Macht kam, gehörten sie zu seinen Gegnern. Damals suchte er nämlich noch den Frieden mit den Kurden. Die, oft fromm, zählten zu seinen treuesten Wählern. Es gibt Sätze von Erdogan aus dieser Zeit, die man heute nicht mehr glauben mag: Er geht auf die Kurden zu, die türkische Regierung hält am Friedensprozess fest, Erdogan will ehemaligen PKK-Kämpfern einen Weg in die Gesellschaft ermöglichen – der inhaftierte PKK-Chef Öcalan nannte Erdogans Initiativen „historisch“. Der Freund der Kurden: Er brach das Tabu und sprach erstmals von einem „Kurdenproblem“, zuvor hatte der türkische Staat bestritten, dass es überhaupt eine kurdische Ethnie gibt. Erst Erdogan erlaubte die kurdische Sprache in der Politik, ließ reichlich Steuergelder in kurdische Regionen fließen.
Der Sultan hat den Nationalisten den Weg geebnet, und die Nationalisten ihm. Er hat es geschafft, dass jeder Handschlag mit einem HDP-Vertreter einem politischen Todesurteil gleichkommt. Er hat die Gesellschaft so geformt, dass sie ihm Wahlsiege schenkt. Fortschritte wie im Umgang mit den Kurden, die er selber mal herbeigeführt hat, opferte er dafür. Er sah, dass nichts im Land so mehrheitsfähig ist wie ein harter Kurs gegen die kurdische Minderheit. Er unterscheidet noch zwischen „den kurdischen Brüdern und Schwestern“, den Konservativen, die ihn wählen – und allen anderen, die in seiner Rhetorik eigentlich nur noch „Terroristen“ heißen. Dieser Kurs hat auch Auswirkungen auf die Millionen geflüchteten Syrer in der Türkei. Ihre Zukunft ist alles andere als strahlend!
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research Center vorbehalten.