Die Neuausrichtung der geostrategischen Interesse in der MENA-Region sind spätestens seit der russischen Invasion in der Ukraine mehr als deutlich geworden. Auch hat die türkische Unterstützung Aserbaidschans im Konflikt um Nagorno-Karabach einen geostrategisch relevanten Aspekt: Mit der Kontrolle im südlichen Kaukasus könnte Erdogan mittelfristig eine alternative Handelsroute aus dem asiatischen Raum über das Kaspische Meer in die Türkei und nach Europa aufbauen, unter Umgehung des russischen Territoriums.
Da wäre noch der kommende Handelsriese aus Indien, der an lukrativen Handelswegen für seinen Export interessiert ist. Hier wurden nun auch neue Fakten geschaffen, mit Hilfe der USA, der EU und Staaten der Golfregion. Die Pläne konzentrieren sich um ein Netz von See- und Eisenbahnrouten, das den indischen Subkontinent über den Nahen Osten mit Europa verbindet.
Der „India-Middle East-Europe Economic Corridor“ (IMEC) wird aus Eisenbahnlinien und Seehäfen bestehen, die Indien und Europa über die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien und Israel verbinden. Das IMEC-Projekt soll nicht nur die Transitzeiten für Waren verkürzen, sondern auch Infrastrukturen für die Produktion und den Transport von grünem Wasserstoff sowie ein Unterseekabel zur Verbesserung der Telekommunikation und des Datentransfers umfassen. Es handelt sich nicht nur um ein Infrastrukturprojekt, sondern um eine US-Strategie, die darauf abzielt, die Temperatur im Nahen Osten zu senken, der in der Vergangenheit ein Nettoexporteur von Turbulenzen und Unsicherheit gewesen ist. Der indische Premier Narendra Modi bezeichnet das Projekt als „Leuchtturm der Kooperation, Innovation und des gemeinsamen Fortschritts“, und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einer „grünen und digitalen Brücke über Kontinente und Zivilisationen hinweg“. Konkret soll der Korridor aus verbesserten Schienennetzen, Schifffahrtsverbindungen und Unterseekabeln zwischen den drei Regionen bestehen.
Ein solches Projekt könnte, wenn es denn implementiert wird, verschiedene politische und wirtschaftliche Implikationen haben: Indien scheint plötzlich entschlossen zu sein, sein Wachstum mit dem Westen zu verknüpfen und sich zu öffnen – damit wäre ein Jahrhundertproblem im Umgang mit dem Subkontinent zwar noch nicht gelöst, aber bemerkenswert offen angegangen. Auch würden mithilfe der Trasse über die Arabische Halbinsel Israel und Saudi-Arabien zusammengeführt, ein Ziel, das die USA schon seit Monaten hartnäckig verfolgen. Ein von Washington selbstverschuldetes Vakuum in der arabischen Welt würde gefüllt – eine Lücke, die übrigens China schon lange identifiziert hat und für seine Interessen nutzt. Ganz nebenbei träte auch die EU erstmals als strategischer Akteur jenseits des eigenen Kontinents auf. Ihre ökonomische Feuerkraft ist allemal zu wenig im Einsatz, um in die Ordnung anderer Weltregionen einzugreifen.
Während Peking nach zehn Jahren das durchwachsene Ergebnis seiner eigenen Seidenstraßen-Initiative begutachtet, nutzen nun Indien und der globale Rivale USA die Gunst der Stunde für ein Gegenmodell. Ob das eine Zukunft haben wird, ist freilich noch völlig ungeklärt. Aber die Dimension dieser neuen Verknüpfungsinitiative ist geopolitisch höchst beachtlich. China war sich seiner außenpolitischen Vorteile nach der erfolgreichen Erweiterung der von ihm dominierten Staatengemeinschaft Brics schon sicher – mit dieser neuen Initiative dürfte China nicht sonderlich glücklich sein: Jene einst westlich orientierten Staaten, die sich in den vergangenen Jahren scheinbar China und Russland angenähert haben, sind für den Westen keineswegs verloren. Saudi-Arabien und die Emirate arbeiten seit einiger Zeit intensiv an vertieften Beziehungen zur Volksrepublik. Sie erhalten Investitionen aus China, aber auch Geschenke, die etwa die USA ausdrücklich verweigern – etwa Kooperation beim Aufbau eigener Atomprogramme, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können.
Diese Initiative mit Europäern und Amerikanern zeigt aber, dass die Golf-Araber nicht einfach die Seiten gewechselt haben, und auch, dass sich Indien keineswegs in einen chinesisch dominierten Gegenpol zum Westen einordnen wollen. Vielmehr kaufen diese Staaten als Mittelmächte in einer multipolaren Welt Kontakte und Verknüpfungen dort ein, wo sie besonders günstig erscheinen. Und da hat der Westen immer noch einiges zu bieten.
Saudi-Arabien will 20 Milliarden Dollar für den Korridor spendieren, doch ansonsten sind die Summen, um die es geht, noch völlig unklar. Die Details sollen erst im Laufe der nächsten zwei Monate ausgehandelt werden. Doch wenn der Westen und seine Verbündeten wirklich mit der sogenannten Neuen Seidenstraße konkurrieren wollen, dann brauchen sie sehr viel Geld. In den nächsten fünf Jahren soll das Investitionsprogramms Partnership for Global Infrastructure and Investment (PGII) eine Größenordnung von 600 Milliarden Dollar haben, die aber zu mehr als der Hälfte bei privaten Investoren eingeworben werden sollen. Darum ist noch völlig unklar, ob diese Summe tatsächlich zusammenkommt. Immerhin: Rechnet man den Betrag der Global Gateway Initiative, der Seidenstraßen-Alternative der EU im geplanten Volumen von 300 Milliarden Euro, dazu, dann ergeben beide zusammen eine Summe von 900 Milliarden Euro – und damit in etwa so viel, wie China mit der Neuen Seidenstraße in den vergangenen zehn Jahren investiert hat.
In der Auseinandersetzung der Machtpole bleibt der Nahe Osten ein zentrales Schlachtfeld. Seit der islamistische Terrorismus entscheidend geschwächt ist, die arabischen Diktaturen stabilisiert sind und die Bedeutung fossiler Brennstoffe wie Erdöl und Erdgas immer weiter abnimmt, sehen manche Beobachter die Bedeutung des erweiterten Nahen Ostens zurückgehen. US-Präsident Barack Obama verkündete gar den sogenannten Pivot to Asia, den Schwenk nach Asien. Dass sich die Supermacht künftig mehr auf den Osten des Riesenkontinents konzentrieren wollte, hing mit Chinas wachsender Macht zusammen und implizierte zugleich einen teilweisen Rückzug aus dem Nahen Osten. Doch nun kommt es anders. Zwar hält Joe Biden prinzipell an dieser Strategie fest, doch allgemein fragen Beobachter in Washington allmählich, was diese eigentlich konkret bedeutet. Denn bislang haben sich weder amerikanische Militäraktivitäten noch Investitionen in Ostasien erheblich erhöht. Der Kampf um die Weltherrschaft findet einstweilen nicht vor Chinas Haustür statt, sondern in jener Region, die quasi das Scharnier zwischen Asien, Europa und Afrika bildet – im Nahen Osten.
Das lässt sich nicht nur am neuen Korridor ablesen. Auch bei der Erweiterung der Brics-Staatengruppe, die China zum Weltbündnis gegen den Westen ausbauen will, wurden vor allem nahöstliche Staaten zugelassen – Ägypten, Saudi-Arabien, der Iran und die Emirate. Und mit seiner Vermittlerrolle in der Wiederannäherung zwischen Saudis und Iranern hat sich China auf sein weltweit wohl wichtigstes, aber auch riskantestes Manöver der vergangenen Jahre eingelassen.
Fossile Brennstoffe werden noch über Jahrzehnte die günstigere Alternative zu grünen Energien sein, und auch bei Letzteren ist der Nahe Osten bedeutsam, etwa mit seiner Investition in grünen Wasserstoff. Auch wird die geografische Lage der Region nicht verschwinden. Durch sie verlaufen alle Handelsrouten zwischen Europa und Ostasien, zwei Regionen, die gemeinsam fast Dreiviertel des globalen Handelsvolumens erzielen. Hinzu kommt, dass insbesondere die Golf-Araber ihre Öl-Milliarden klug investiert haben. An den Finanzmärkten der Welt sind sie bedeutende Mächte. Und sie sind politisch agiler als andere Staaten der Erde.
Erfüllt sich der US-Wunsch, dass der neue Korridor auch Israel und Saudi-Arabien einander näherbringen kann? Dafür sind die Absichtserklärungen noch zu schwammig! Aber festzuhalten ist, dass Israelis und Araber ähnlich geschickt darin sind, sich Investitionen und politische Garantien verschiedener Mächte zu sichern.
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