Alles, was auch sonst mächtig ist, wird in den sozialen Netzwerken noch mächtiger. Das gilt auch für den Islamismus. In den vergangenen Wochen wurde viel debattiert über Videos, in denen Menschen islamistische Attacken wie jene in der deutschen Stadt Mannheim verharmlosten oder sogar guthießen. So wie der Hassprediger „Imam Meti“, der sich auf Tiktok präsentierte, wie er mit einem Messer fuchtelnd Morde von Islamisten als „gute Nachricht“ feierte und zu weiteren Gewalttaten aufrief. Erwartungsgemäß verurteilten Politiker aller Parteien derlei als verabscheuenswert. Ebenso erwartungsgemäß forderten sie, dagegen müsse man vorgehen. Doch unabhängig davon, wie schnell und zielsicher die Sicherheitsbehörden solche höhnischen Hetzer ins Visier nehmen: Das Problem beginnt da erst.
Denn so, wie machtbewusste Rechtsextremisten sich selten mit „Heil Hitler“-Rufen vor Kameras outen, verzichten auch strategisch denkende Islamisten oft auf öffentliche Aufrufe zum Dschihad. Sie wollen junge Menschen anlocken, nicht die Polizei. Und junge Menschen sehnen sich selten nach politischen Parolen, häufig freilich nach Ansprache, Verständnis und Orientierung beim Versuch, ein cooler Erwachsener zu werden. Das wissen die Islamisten zu nutzen. Gut beschrieben wird ihre Methode im „Lagebild Islamismus“ des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, das kürzlich erschien. Da heißt es, populäre extremistische Salafisten inszenierten sich als Influencer: neue Sneakers statt langer Bärte. Sie redeten in Umgangssprache, kokettierten mit einem Gangster-Image, das in Sprache und Erscheinungsbild subkulturelle Anleihen aus der Gangster-Rap-Kultur übernehme, prahlten mit Kampfsporterfahrung und Kontakten ins Clan-Milieu. Sie schimpften nicht auf Konsum, sondern protzten selbst mit ihrem Eigentum, ihren Autos, Häusern, Ferienzielen. Früher dagegen waren öfter Männer in traditionellen Gewändern zu sehen, die darüber sprachen, wie oft am Tag man beten solle, wie streng gefastet werden müsse und wie häufig ein junger Mann im Koran zu lesen habe.
Ein Beispiel für den neuen Typus ist Dehran Asanov. Der Influencer und Salafist präsentiert sich seinem Millionenpublikum auf Tiktok oder Youtube lässig im Basketballtrikot. So verbreitet er, wie die Verfassungsschützer beobachteten, „chauvinistisch-patriarchalische Werte und Moralvorstellungen, die mit extremistisch-salafistischen Begründungsmustern unterlegt werden“. Ähnliche Beobachtungen machten auch andere Sicherheitsbehörden in Deutschland. Deren Jahresbericht enthielt dieses Jahr zum ersten Mal ein eigenes Kapitel zur „Tiktokisierung des Islamismus“. Darin heißt es, islamistische Influencer setzten in sozialen Netzwerken maßgeblich Radikalisierungsprozesse in Gang. Familie und Lehrer merkten davon oft gar nichts.
Das gibt es schon länger. Aber Tiktok verändert die Methoden und beschleunigt ihre Wirkung. Die Verfassungsschützer beschreiben, dass die Plattform einerseits eine gigantische Reichweite erzeugt, gerade unter jungen Menschen, andererseits von vielen Älteren gar nicht genutzt wird. Viele Lehrer und Eltern wissen – anders als etwa bei Instagram – gar nicht, was dort los ist. Dazu kommt noch, dass Tiktok seinen Nutzern Inhalte vorschlägt, die ihnen schon gefallen haben, und so das Angebot immer genauer auf sie zuschneidet. Das Netzwerk habe ein „hohes Suchtpotential“, gelte als „digitale Droge“.
Und die Islamisten lassen sich etwas einfallen: Sie haben das Frage-und-Antwort-Video als Format kultiviert. Jugendliche können Fragen zu islamkonformer Lebensweise stellen, und berühmte Influencer antworten ihnen in dreißig oder vierzig Sekunden. So erhält beispielsweise ein Jugendlicher, der wissen will, ob eine Frau arbeiten dürfe, die Antwort, das sei grundsätzlich okay, solange „es keine Haram-Aspekte gibt in dieser Arbeit“, also Dinge, die den religiösen Vorschriften widersprechen. Wenn die Frau also nicht mit Männern zusammenarbeite, nicht ihr Kopftuch ablegen müsse oder „dort irgendeine Haram-Tätigkeit ausführen muss“, sei alles in Ordnung.
Die Tiktok-Prediger sind aber nicht nur digital aktiv; manche treten wie Popstars auf, zum Beispiel in Moscheen oder als Reiseleiter auf Pilgertouren nach Mekka. Da führen sie die Jugendlichen an weiterreichende Inhalte des radikalen Islams heran. Auch antisemitische Stereotype haben eine wichtige Bedeutung. Sie sind Anker in die breitere Öffentlichkeit. So gelang es Islamisten, das Demonstrationsgeschehen rund um den Gazakrieg in weiten Teilen zu vereinnahmen und einen regionalen Konflikt zu einer Angelegenheit aller Muslime islamistisch „umzumünzen“. Sie legen nahe, dass es nur einen Weg gebe: den Kampf gegen den Westen.
Das Fazit der Verfassungsschützer: Gerade Tiktok trage zu einer neuen, dramatischen Dynamik bei, die gefährliche Ideologien vom virtuellen Raum auch in die reale Welt bringe. Prediger befeuerten die Entfremdung junger Menschen von der Mehrheitsgesellschaft und den Werten des demokratischen Rechtsstaats. Bloß: Was tun? Die Sicherheitsbehörden allein können es nicht richten. Schon weil ein großer Teil der Propaganda nicht gegen geltendes Recht verstößt. Tiktok gab sich in letzter Zeit beflissen, mehr zu tun gegen Extremisten – auch auf Druck von EU, Bundesregierung und den Vereinigten Staaten. Es zeigte, welche Regulierung möglich ist: etwa die Reichweite von Profilen zu drosseln oder Accounts zu sperren, heikle Videos zu löschen. Der Verfassungsschutz hält es aber für nötig, dass sich staatliche Stellen, Sicherheitsbehörden, Lehrer, Eltern die Arbeit aufteilen, sich vernetzen und mehr Aufwand betreiben, um die Herkulesaufgabe zu meistern. Je länger sie damit warten, desto unwahrscheinlicher wird der Erfolg.
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