Eigentlich hatte sich Europas Sicherheit beruhigt: Der Islamische Staat (IS) verlor seine Anziehungskraft, Salafisten predigen nicht in der Öffentlichkeit, auch sucht man vergebens nach bärtigen Männer und verschleierten Frauen in den Fußgängerzonen Europas, Diederichs Koran gratis verteilen mit den dazugehörigen Heilsversprechungen, die selbsternannten Scharia-Polizisten spielen sich auch nicht mehr auf.
Ebenso waren sich die Sicherheitsbehörden in Europa einig in der Annahme, dass dank einerJah großflächigen Observierung von islamitischen Gefährdern die Zahl von potentiellen Anschlägen gesunken sei. Im vergangenen Jahr gab es laut Europol nur noch sechs dschihadistische Anschläge oder Anschlagsversuche europaweit. Auch arbeiteten Polizei und Geheimdienste länderübergreifend bei Ermittlungen enger zusammen, Informationen über mögliche Gefährder und Anschläge wurden besser ausgetauscht als in der Vergangenheit. Der Islamismus blieb zwar, als Gefahr präsent, aber viele hielten ihn nur noch für einen Schwelbrand, den die Politik und der Sicherheitsapparat mehr und mehr unter Kontrolle brachte.
Eine Zäsur war der 7. Oktober 2023 mit dem Terror der Hamas und der darauf folgende Krieg in Gaza. Diese beiden Ereignisse können ein Brandbeschleuniger für die islamistische Szene in Europa sein. Seitdem ist die Gefahr terroristischer Anschläge im Westen sein. Vier Anschläge haben die Behörden allein in Deutschland in den vergangenen Wochen vereitelt, mehrere Mitglieder der Hamas wurden festgenommen, die Angriffe geplant hatten. Während Staaten wie Frankreich mittlerweile Alarm schlagen, wird in Deutschlandnoch keine Terrorwarnstufen ausgerufen. Viele Experten in Berlin haben immer noch geglaubt, eine Gefahr durch die Hamas, dem terroristischen Zweig der Muslimbruderschaft, wäre in Europa mangels Unterstützer nicht präsent.
Mittlerweile sind sich Europas Innenminister einig, die Gefahr einer „Radikalisierung von gewaltbereiten Islamisten ist hoch“. Es gebe eine „veränderte Bedrohungslage“, die die Regierungen „sehr ernst“ nehmen würden. Gerade „islamistische Einzeltäter sind eine jederzeit bestehende Gefahr“. Für die europäischen Sicherheitsorgane sind die Entwicklungen im Nahen Osten geeignet, „eine hohe Gefährdungsrelevanz für die Sicherheitslage in Europa zu entfalten“. Sollte sich der Konflikt verschärfen, könnten besonders einzelne Personen das als „Ermutigung für einen Anschlag sehen“.
Der Krieg in Gaza eignet sich besonders gut, um den Hass anzufachen, davon sind Terrorismusexperten überzeugt. Kaum ein Konflikt lässt sich ideologisch so eindeutig darstellen. Anders als in früheren Auseinandersetzungen, etwa in Syrien, kämpfen hier nicht Muslime gegen andere Muslime, sondern Muslime gegen Juden, die noch immer bei vielen verhasst sind. Es ist von einem „Völkermord“ der Israelis an Palästinensern die Rede. Der Politikwissenschaftler Peter Neumann vom Londoner King’s College sagt: „In diesem Krieg steckt alles, was sich Islamisten nur wünschen können.“ Dazu wirkt auch die Propaganda der Hamas. „Für einen Anschlag braucht es Täter, die emotional so engagiert sind, dass sie losgehen und zur Tat schreiten“, sagt der Terrorismus-Experte. „Starke Emotionen“ spielten eine wichtige Rolle. „Und die sehen wir im Moment.“
Das stellt die Sicherheitsbehörden vor ein Problem. Denn die Szene ist unübersichtlicher geworden. Da sind etwa frühere Extremisten, die sich eigentlich losgesagt hatten vom Islamismus und die sich jetzt in kürzester Zeit wieder radikalisieren. Daneben gibt es aber auch eine neue Form des Extremismus: Jugendliche, die sich auf Plattformen wie TikTok oder YouTube radikalisieren, ohne festen Bezug zu einer extremistischen Organisation. Das gab es zwar auch schon früher, als sich salafistische Hetzer an junge Männer richteten und die Werte der Mehrheitsgesellschaft angriffen. Jetzt existieren viel mehr solcher Videos und wer sich ein paar anschaut, dem setzt der Algorithmus immer mehr vor. Viele Jugendliche stehen laut Extremismusforschern im Bann solcher Beiträge. Es ist eine Tiktokisierung des Terrors. Besonders aktiv sind im Netz Organisationen wie „Realität Islam“, „Generation Islam“ und „Muslim interaktiv“, die entweder direkt der Hamas oder der in den meisten EU-Ländern verbotenen Hizb ut-Tahrir nahestehen. Sie strebt einen globalen Kalifatsstaat an, aber davon ist in diesen Videos nichts zu hören. Keiner spricht von Ungläubigen, die getötet werden müssten. Stattdessen wird behauptet, dass der deutsche Staat Muslime unterdrückt, etwa weil er propalästinensische Demonstrationen verbietet.
„Die Agitatoren sind geschickt, die reden erst einmal gar nicht vom Kalifat. Die greifen die Themen auf, die die Menschen umtreiben, Alltagsthemen, Diskriminierungserfahrungen, vermeintliche und echte, und damit kriegen die ihre Anhänger“, so Ahmad Rukovic, Extremismus-Forscher in Den Haag. Dass Muslime solche Diskriminierungen erleben, steht für ihn außer Zweifel und er sieht gerade in dieser Tatsache eine Gefahr: Wenn Muslime sich ausgegrenzt fühlten, dann hätten die Menschenfänger leichtes Spiel.
Plattformen wie Tiktok sind dabei nur die „Einstiegsdroge“. Weiter geht es in geschlossenen Gruppen bei Telegram oder Signal. Dort können Jugendliche sich weiter radikalisieren. Sie schaukeln sich gegenseitig hoch, und irgendwann ist vielleicht einer bereit, zur Tat zu schreiten. Beispiele belegen diese These: Es gab bereits Vorbereitungen von Anschlägen solcher Jugendliche in Deutschland, Österreich und Frankreich.
All das macht es für die Dienste viel schwerer, die Szene zu beobachten. Früher trafen sich die Leute immerhin noch an Orten, die den Behörden bekannt waren, in Moscheen, Gemeindezentren oder Shisha-Bars. Eben dort, wo radikale Prediger ihre Anhänger um sich scharten. Diese Orte konnte man observieren. Früher versuchten viele Islamisten, auszureisen in das Gebiet des IS. Wer es schaffte, war erst einmal weg. Und wem es nicht gelang, der hatte immerhin seine Personalien hinterlassen. Dann wussten die Dienste zumindest, mit wem sie es zu tun hatten. Früher gab es eine klarer umrissene Ideologie. Wer sich dem IS anschließen wollte, musste sich zu dessen radikaler Auslegung des Islams bekennen, er musste zumindest ein paar Koranverse kennen und kleidete sich oft entsprechend. Solche Leute fielen irgendwann auf.
Heute hingegen loggen sich Jugendliche mit Pseudonymen erst bei Tiktok ein, dann bei YouTube, und am Ende landen sie als Yussuf13763 in einem von Zehntausenden verschlüsselten Telegramchats. Heute berufen sie sich auf Terrororganisationen wie den IS, die ihre Marke freigegeben haben. Man muss nur einen halbwegs geraden Treueschwur rausbringen und die Tat mit dem Handy filmen, schon reklamiert der IS den Anschlag für sich. Mit dem Islam hat das alles nur insofern zu tun, als dass sich die Täter auf ihn berufen. „Die meisten Extremisten haben keine Ahnung von der islamischen Glaubenstradition,“ so Neumann. Sie kennten höchstens den politischen Islam, den es seit den Fünfzigern und Sechzigerjahren gibt. „Der Islam ist für sie ein Identitätsmarker, wie für rechte Identitäre das Christentum.“ Deren Anhänger haben vom Christentum schließlich auch keine Ahnung.
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