Die Nähe Erdoğans zur Hamas sowie seine jüngsten unterstützenden Äusserungen haben die westlichen Partner erneut überrascht. Viele fragen sich, ob er als Vermittler im Nahost-Konflikt überhaupt noch vertrauenswürdig ist. Der türkische Präsident hat sich zur Stimme der palästinensischen Sache erhoben: Er erklärt die Terrororganisation Hamas zu Freiheitskämpfern, bezeichnet Israel als Schachfigur des Westens, warnt vor einem „Kampf zwischen Halbmond und Kreuz“ – und stellt sich mit seinen Aussagen einmal mehr gegen die NATO. „Wenn ihr so eine Absicht habt, dann vergesst nicht, diese Nation ist noch am Leben“, rief er seinen Anhängern zu. Man könne „jede Nacht unerwartet kommen“.
Unmittelbar nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hatte Erdoğan sich noch moderat geäußert und als Vermittler in dem Konflikt positioniert. Tatsächlich war die Türkei Berichten zufolge in Verhandlungen über die Freilassung israelischer Geiseln in den Händen der Hamas involviert. Ankaras Kontakte sowohl zu der palästinensischen Miliz als auch zur israelischen Regierung hatten dies möglich gemacht. Erdoğan verurteilte die „Tötung von Zivilisten in Israel“, ohne die Hamas namentlich zu nennen, zugleich rief er Israel dazu auf, sich „wie ein Staat und nicht wie eine Organisation zu verhalten“. Und er bot seine Vermittlerdienste an, etwa zur Freilassung der rund 220 Menschen, die die Hamas als Geiseln verschleppt hat. Doch offensichtlich hatten die Israelis keinen Bedarf an einer solchen Vermittlung, schon gar nicht durch Erdoğan.
Mit der Kehrtwende Erdoğans zusammenhängend sind auch die Ängste westeuropäischer Sicherheitsdienste gestiegen, dass der türkische Präsident mit seinen Statements für die Terrorgruppe der Muslimbruderschaft auch die türkischen Communities im Westen aufwiegeln kann. Besonders in Deutschland wächst die Angst, sollte der Sultan zu einem Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und der Türkei demnächst nach Berlin reisen, wo das Fußball-Ereignis im historisch belasteten Olympia-Stadion stattfinden wird. Befürchtet werden antisemitische Ausschreitungen von Erdoğan-Fans in der deutschen Hauptstadt, unter den Augen ihres „Führers“, der dann wohl neben dem deutschen Bundeskanzler sitzen wird. In Sicherheitskreisen in Deutschland wird intern bereits diskutiert, das Spiel zu verschieben.
Erdoğans Nähe zur Hamas und ihrer politischen Führer ist nicht neu, ihre Spitzenfunktionäre hat er mehrfach empfangen und ihnen erlaubt, Büros in Istanbul zu betreiben. Man kann nicht die Augen davor verschließen, dass er sich sich der Hamas ideologisch verbunden fühlt. Nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 in Gaza lud er deren Führer Khaled Maschal in die Türkei ein. 2014 trat dieser, angefeuert von „Nieder mit Israel“-Rufen, auf einem AKP-Parteitag in Konya auf. Der jetzige Hamas-Chef Ismail Hanija soll Berichten zufolge gar am 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Überfalls auf Israel, in Istanbul gewesen sein.
Die Terrororganisation besitzt offenbar erhebliche Vermögenswerte in der Türkei. Das amerikanische Finanzministerium spricht von einer „zentralen Komponente“ im „geheimen globalen Investitionsportfolio“. Washington hat Sanktionen gegen den türkischen Immobilienentwickler Trend GYO verhängt und führt mehrere in der Türkei ansässige Personen auf seiner schwarzen Liste. Der Aufklärungswille der türkischen Behörden scheint weniger entschlossen gewesen zu sein als in Saudi-Arabien. Von dort soll die Terrororganisation in den vergangenen Jahren einen Teil ihrer Finanzaktivitäten in die Türkei verlagert haben. Zwischenzeitlich soll Ankara laut der britischen Zeitung „Times“ sogar türkische Pässe an manche Hamas-Funktionäre vergeben haben.
Erdoğans abermalige Kehrtwende hat auch innenpolitische Gründe. Islamistische Oppositionsparteien und sein rechtsextremer Koalitionspartner MHP weckten Zweifel an seiner Unterstützung für die palästinensische Sache, nachdem er sich anfangs auffällig zurückhaltend geäußert hatte. An den rechten Rand hat Erdoğans AKP bei den Parlamentswahlen viele Stimmen verloren. Eine propalästinensische Grundhaltung ist Konsens in der türkischen Politik, von links bis rechts. Das gilt aber nicht unbedingt für die Hamas. Nur elf Prozent der Befragten in einer Studie des Instituts Metropoll sprachen sich dafür aus, dass die Türkei sich hinter die Terrororganisation stellen solle.
Erdoğan geht es auch darum, seinen Anspruch als Anführer des sunnitischen Islams und als Regionalmacht zu unterstreichen. Nachdem seine Bemühungen um eine Vermittlerrolle international auf wenig Widerhall stießen, brachte er sich auf andere Weise ins Gespräch. Dass er dafür den Vorabend der Hundertjahrfeier der Türkischen Republik nutzte, war kein Zufall. So konnte er daran erinnern, dass Palästina vor nicht allzu langer Zeit Teil des Osmanischen Reichs war.
Der neue Sultan weiß aus Erfahrung, dass er durch Kritik an Israel seine Popularität in der arabischen Welt steigern kann. 2009 punktete er auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos mit einem harschen Angriff auf den damaligen israelischen Präsidenten Schimon Peres. Einen Tiefpunkt erreichten die Beziehungen 2010, als türkische Schiffe versuchten, die Seeblockade Gazas zu durchbrechen und neun türkische Aktivisten von israelischen Soldaten erschossen wurden.
Vor dem Besuch des türkischen Präsidenten in Deutschland am 17. und 18. November mehren sich nun kritische Stimmen in Berlin, die eine klare Positionierung der deutschen Regierung gegenüber ihrem Gast einfordern. Angesichts der Hamas-Verteidigung Erdoğans gebe es nun keine Gesprächsgrundlage mehr. Wirtschaftliche und migrationspolitische Angelegenheiten könnten auf ministerieller Ebene besprochen werden, sagen Experten. Es wäre das völlig falsche Signal, Erdoğan jetzt in Berlin den roten Teppich auszurollen und dadurch seine Hamas-Unterstützung zu verharmlosen. Erdoğan könnte auch vor seinen Anhängern in Deutschland weiter Öl ins Feuer gießen. Das würde die Situation auf den deutschen Straßen verschärfen.
Die israelischen Bomben auf Gaza machen es gerade vielen in der islamischen Welt leicht, den monströsen Terror der Hamas vom 7. Oktober zu ignorieren. In den türkischen Medien spielt der 7. Oktober keine Rolle mehr, das Thema ist Gaza. Erdoğan weiß, wie die Stimmung in der Türkei ist, nämlich gegen Israel.
Eine ähnliche Parteinahme für die Hamas kam nur aus dem Iran. Erdoğan unterstreicht damit einmal mehr seinen Anspruch, als Nachfolger des osmanischen Kalifen und als Wortführer der muslimischen Welt, der „Ummah“, zu gelten. Er mag dabei im Vorfeld der Kommunalwahlen, bei denen er die Stadtverwaltungen von Istanbul und Ankara zurückgewinnen will, ein innenpolitisches Kalkül verfolgen. So wie Erdoğan stets dazu bereit war, allen ideologischen Eifer persönlichen Machtinteressen unterzuordnen. Mit seinem Bekenntnis zur Hamas hat Erdoğan die Türkei auf schockierende Weise positioniert: auf Seiten der Mörderbande namens Hamas, gemeinsam mit dem iranischen Mullah-Regime.
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