Die Bevölkerung der MENA-Staaten feierte die Fußball-WM in Katar als ein Zeichen dafür, dass die arabischen Nationen nun endlich den Respekt der Welt bekommen haben. Ein Kommentator des tunesischen Fernsehens sagte vor der Kamera: „Wir sind die Araber der Geschichte und der Zukunft. Wir sind die Kultur und die Zivilisation. Wir sind die, von denen ihr gelernt habt. Wir sagen nicht, dass wir besser sind, aber wir weigern uns weniger zu sein. Respektiert, damit ihr respektiert werdet.“ Daraufhin wurden diese Aussagen massenhaft im Internet geteilt. Nach dem Einzug Marokkos ins Halbfinale war der panarabische Stolz überschwänglich, gepaart mit Kritik an Europa, Deutschland besonders. Die Menschen feierten in Dubai genauso wie in Gaza, Kairo oder Casablanca. Das frühe Ausscheiden der deutschen Nationalelf wurde in weiten Teilen der arabischen Welt bejubelt.
Diese Stimmung spiegelt sich längst auch im politischen Diskurs wider. „Wo liegt heute das Potenzial in der Welt?“, fragte der saudische Kronprinz und Premierminister Mohammed bin Salman im Gespräch mit dem US-Magazin Atlantic. Seine Antwort: „Es liegt in Saudi-Arabien. Und wenn Sie es verpassen wollen, glaube ich, dass andere Menschen im Osten sehr glücklich sein werden.“
Der Westen schaut bislang eher staunend und fragend auf dieses neue arabische Selbstbewusstsein. Die Töne, die sie aus der Region hören, sind nicht mehr so unterwürfig wie noch vor einigen Jahren. Man will sich von Washington oder Berlin nicht mehr vorschreiben lassen, mit wem man Politik und Geschäfte macht. Als der chinesische Präsidenten Xi Jinping nach Saudi-Arabien reiste, lobte Kronprinz Mohammed bin Salman den Besuch als neues „historisches Kapitel“ für die Region. Peking scheut sich ebenfalls nicht, die Bedeutung der Reise zu loben, die Xis erste Reise nach Saudi-Arabien seit Januar 2016 war. Insbesondere das Gipfeltreffen zwischen China und den arabischen Staaten wurde vom Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Mao Ning, als „epochaler Meilenstein in der Geschichte der chinesisch-arabischen Beziehungen“ bezeichnet. Peking beschrieb den Gipfel als „das größte und hochrangigste diplomatische Treffen zwischen China und der arabischen Welt seit der Gründung der Volksrepublik China“.
Während die Spannungen mit dem Westen und besonders mit den USA zunehmen, sieht Saudi-Arabien China als wichtige Alternative. „Die Bereitschaft des Königreichs Saudi-Arabien, bilaterale Beziehungen mit der chinesischen Seite zu entwickeln, ist Teil der strategischen Pläne unseres Landes, seine bilateralen Beziehungen und Partnerschaften mit allen einflussreichen Ländern und internationalen Mächten zu stärken und ausgewogene Beziehungen zu ihnen aufzubauen“, so die offizielle Marschroute der saudischen Regierung.
Der Wunsch, sich nach Partnern außerhalb des Westens umzusehen, ist allerdings nicht neu. Riad und Abu Dhabi sind vom Westen enttäuscht, nach den Raketenangriffen der jemenitischen Huthi-Rebellen auf Ölanlagen am Golf fühlen sie sich von Washington im Stich gelassen. Und aus Europa hagelte es in den vergangenen Jahren ständig – durchaus berechtigte – Kritik: am Krieg etwa, den Saudi-Arabien in Jemen führt, oder an der Ermordung des regimekritischen Journalisten Jamal Khashoggi, für den die CIA den saudischen Königssohn verantwortlich macht.
Hinzu kommt, dass Russlands Überfall auf die Ukraine das Mächtegleichgewicht zu Gunsten der Araber verschoben hat. In den vergangenen Monaten gaben sich westliche Regierungen am Persischen Golf die Klinke in die Hand. Deutschland genehmigte Waffenlieferungen an Saudi-Arabien, obwohl die Regierung in ihrem Koalitionsvertrag Rüstungsexporte an Beteiligte des Jemenkriegs ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Während westliche Staaten derzeit mit steigenden Lebenshaltungskosten zu kämpfen haben und Alternativen zum russischen Gas suchen, profitieren die Golfstaaten von den höheren Öl- und Gaspreisen und treiben damit lokale Entwicklungsinitiativen voran – gerne mit chinesischer Unterstützung.
Gleichzeitig sträuben sie sich dagegen, von der westlichen Anti-Russland-Initiative vereinnahmt zu werden. In Riad werde der Ukraine-Krieg vor allem als „europäische Krise“ gesehen, für den die Europäer einen hohen Preis zahlen. Russische Sicherheitsbedenken finden am Golf und darüber hinaus in vielen arabischen Ländern Gehör. Dies liegt daran, dass man in Riad den Vergleich zwischen der Ukraine und Jemen zieht: Saudi-Arabien will in Jemen eine befreundete Regierung ohne feindlichen Einfluss und keine ausgedehnten militärischen Drohungen, eine Anspielung auf den jahrelangen Wunsch der Ukraine, der Nato beizutreten.
Inmitten sich drehender globaler Winde und wachsender Großmachtkonkurrenz ist China bestrebt sicherzustellen, dass die arabischen Staaten auf seiner Seite stehen – oder zumindest neutral sind. China möchte insbesondere, dass die arabischen Staaten die Zusammenarbeit mit ihrer neuen Global Development Initiative und Global Security Initiative sowie „Belt and Road“ vorantreiben.
Das hat vor allem wirtschaftliche Gründe: Peking treibt das Projekt der „Neuen Seidenstraße“ voran, Mohammed bin Salman seine „Vision 2030“. Man hat das Gefühl, dieselbe Beraterfirma hat diese beiden Megaprojekte ins Leben gerufen. Saudi-Arabien braucht ausländische Investitionen und Expertise, um die Wirtschaft unabhängiger vom Öl zu machen – und genau das kann China bieten, das seine Einflusssphären stetig erweitern will.
Ein Großteil der Investitionen in Saudi-Arabien konzentriert sich weiterhin auf Energie, auch beim Handel sieht es ähnlich aus: Chinesische Importe aus der Region bestehen fast ausschließlich aus Petrochemie und anderen Rohstoffen. Die Golfstaaten sind bestrebt, ihre Volkswirtschaften weg vom Öl zu verlagern und sehen China als einen wichtigen Partner bei diesen Bemühungen. Im vergangenen Jahr pumpte es Geld in Hotels im Oman und in die Automobilindustrie in Saudi-Arabien. Solche Projekte sind jedoch immer noch Ausreißer; Nicht-Öl-Investitionen bleiben schleppend.
Die Herausforderung für die Golfstaaten besteht nun darin, die Handelspolitik mit den geopolitischen Machtinteressen Chinas in Einklang zu bringen. Einerseits ist das bevölkerungsreichste Land zunehmend verlockend geworden. China ist ein großer Exportmarkt und eine wichtige Investitionsquelle am Golf. Die geopolitische Komponente, in der China als strategische Absicherung gegen ein unberechenbares Amerika dient, ist weniger überzeugend: China ist kein einfacher Ersatz. Darüber hinaus könnten die Golfführer beim Versuch, eine Macht gegen die andere auszuspielen, zum Schluss von den USA einfach wiegengelassen werden.
Bislang haben die USA im Handels- und Investitionspoker Chinas in der Golfregion nicht viel zu befürchten. Es sind die strategischen Aspekte, die Washington beunruhigen: Telekommunikation, Sicherheit und zunehmend Verteidigung. Die Golfstaaten sind begeisterte Kunden von Huawei, dem Telekommunikationsgiganten, der unter amerikanischen Sanktionen steht, sie machen gerne Geschäfte mit Unternehmen wie SenseTime, einem Unternehmen für künstliche Intelligenz, das von den USA wegen seiner Rolle bei der Spionage von Uiguren in Xinjiang auf die schwarze Liste gesetzt wurde. Im September kündigte ein Unternehmen des saudi-arabischen Staatsfonds ein 207 Millionen Dollar teures Joint Venture mit SenseTime zum Bau eines KI-Labors im Königreich an.
Die saudische Regierung versucht auf jeden Fall alles, die USA und den Westen nicht zu brüskieren: China ist ein wichtiges Land, sagen sie, und das Königreich behandelt es als solches. Trotzdem sind viele Menschen in den Golfstaaten verärgert über einen Westen, dessen Politik inkohärent erscheint. Drei aufeinanderfolgende US-Präsidenten haben davon gesprochen, Amerikas Rolle im Nahen Osten zu reduzieren, gleichzeitig wollen sie aber nicht, dass andere Mächte bei ihrem Abgang zu viel Einfluss gewinnen. Solche Frustrationen am Golf sind verständlich.
Beflügelt von höheren Ölpreisen und wachsenden Volkswirtschaften fühlen sich die Golfherrscher selbstbewusst: Sie haben das Gefühl, dass dies ihr Moment ist, um aus dem US-Schatten herauszutreten, Präsident Biden und die westlichen Regierungen werden eine größere chinesische Rolle in der Region akzeptieren müssen. Aber beide Seiten sollten erkennen, dass China die USA und seine Partner heute wie in den 1980er Jahren nicht vollständig ersetzen können.
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