Die Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch (DAVA) war Mitte Januar mit der Ankündigung an die Öffentlichkeit getreten, an der Europawahl am 9. Juni teilnehmen zu wollen. Zu den Kandidaten, die DAVA bislang vorgestellt hat, gehören unter anderem zwei Männer, die sich zuvor in deutschen Islamverbänden engagiert hatten. Dava will nach eigenen Angaben Menschen unterschiedlicher Herkunft als Kandidaten für die Europawahl aufstellen. Vorwürfe, DAVA sei der verlängerte Arm der islamisch-konservativen türkischen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, wies der Vorsitzende der neuen Vereinigung, Teyfik Özcan, zurück.
In den meisten Kommentaren, welche die Ankündigung provozierte, schon bei den nächsten Europawahlen anzutreten, wurde DAVA als Marionette Erdogans abgetan. Ihr Vorsitzender Öczan hat darüber bitter geklagt, in seinen Artikeln für den Ableger des türkischen Staatssenders TRT aber kaum eine Gelegenheit ausgelassen, seine Begeisterung für den türkischen Präsidenten kundzutun. Auch die Verbindungen der DAVA-Spitzenkandidaten zur türkischen Regierungspartei sind schwer zu bestreiten.
Einer davon ist Fatih Zingal. Er war Mitglied der AKP-Lobbyorganisation UID und ist aus Talkshows als glühender Erdogan-Verteidiger bekannt. Die beiden weiteren Spitzenkandidaten dienten als Funktionäre des der türkischen Moscheeverbands Ditib und der nationalistisch-islamistischen Milli-Görüs-Bewegung, die von Erdogans Ziehvater Necmettin Erbakan ins Leben gerufen wurde. Ditib, Milli Görüs und AKP bilden in der Türkei heute ein enges ideelles Geflecht. Dass der Nahostkonflikt hier zuletzt immer stärker zum Reizthema geworden ist, hat nicht nur mit der antisemitischen Tradition der Milli Görüs zu tun, sondern auch mit Erdogans Bestreben, sich als Integrationsfigur des politischen Islams zu positionieren.
Wenn DAVA mehr Aufmerksamkeit entgegenschlägt als ihren gescheiterten Vorgängern in Deutschland, BIG und ADD, dann liegt es daran, dass ihr mit den rund 1.200 Moscheen von Ditib und Milli Görüs ein mächtiger Apparat zur Verfügung steht, auf den sie, wie Experten vermuten, wird zurückgreifen können. Die Schätzung des Wählerpotentials auf rund fünf Millionen Menschen ist hoch gegriffen. Zweifellos wird die Partei aber von der Liberalisierung des Staatsbürgerrechts profitieren, die mehr Türken und Muslime in den Genuss des deutschen Wahlrechts bringen wird.
DAVA will zur Stimme aller Menschen mit Einwanderungsgeschichte und insbesondere von Muslimen in Deutschland werden. Wie groß ist das Wählerpotential von DAVA? Die Vertreter der Partei sprechen von fünf Millionen Muslimen in Deutschland, teils sogar von sieben Millionen. Von denen sind zwar längst nicht alle wahlberechtigt, auch weil viele von ihnen keinen deutschen Pass haben. Die Vertreter setzen aber darauf, dass die Zahl der wahlberechtigten Muslime durch Einwanderung sowie die von der Ampelkoalition beschlossene Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts weiter steigen wird. Entscheidend für den Wahlerfolg dürfte sein, ob es DAVA gelingt, über das türkischstämmige Wählermilieu hinaus andere Muslime zu gewinnen. Nach Ansicht von Wahlforschern könnte der Nahostkonflikt zum Erfolgsfaktor werden. Zumindest nach außen gilt in der deutschen Parteienlandschaft das Bekenntnis zu Israel, das viele Muslime, Türken, Araber befremdet, auch wenn Öczan, der für eine Zwei-Staaten-Lösung plädiert, davon nichts wissen will.
Bitter ist die anstehende Parteigründung besonders für die Sozialdemokraten, die lange als Stammpartei der Türken und Muslime galten. Dass das Wahlverhalten von Türkischstämmigen heute genauso flexibel wie das aller anderen Deutschen ist, muss sich nicht zwangsläufig zugunsten einer neuen Partei auswirken. Nimmt man die 500.000 Stimmen, die Erdogan bei der türkischen Präsidentschaftswahl in Deutschland erreichte, als Gradmesser, dann wird man die Zugkraft des türkischen Nationalismus aber nicht unterschätzen.
Das Programm von DAVA liest sich als Mischung aus sozialdemokratischer Wohlfahrtspolitik und konservativer Gesellschaftspolitik, technologisch zukunftsgewandt, naturfreundlich und pro-EU. Das Provokationspotential liegt in der Gesellschafts- und Religionspolitik. Im Ganzen geht es um einen Richtungswechsel im Verhältnis von Familie und Individuum. Individuelle Freiheiten werden nicht negiert, aber der Familie untergeordnet. In der Religionspolitik fordert man die Anerkennung der Islamverbände als Religionsgemeinschaften.
Im Fall der Ditib böte das auch die Möglichkeit, sich vom türkischen Einfluss zu lösen und die spezifischen Herausforderungen der Muslime in Deutschland zu meistern, meint Özcan. Wenn man die erzkonservativen Ansichten vieler Verbandsvertreter kennt, wird man es aber eher als Rückschlag für den moderaten Islam in Deutschland bewerten. Es fällt schwer, Öczans Zuversicht zu teilen, die vom Verfassungsschutz dem Islamismus zugeordnete Milli Görüs lasse sich auf einen Reformprozess ein. Eine neuere Studie der Dokumentationsstelle Politischer Islam zeigt eine gegenläufige Tendenz.
Die Forderung im Parteiprogramm, negative Islamdarstellungen in Schulbüchern zu korrigieren oder die Gesetze gegen Islamfeindlichkeit zu verschärfen, ist schon deshalb gefährlich, weil keine klare Abgrenzung zum Islamismus getroffen wird. Nimmt man die ideologische Herkunft der Parteivertreter, dann ist davon auszugehen, dass damit jeder Kritik am Islamismus ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben werden soll. Wie weit die von Öczan beschworene Einheit der abrahamitischen Religionen im Konfliktfall trägt, müsste sich erst noch erweisen.
Man kann darüber streiten, ob das Parteiprogramm als Spiegelbild des legalistischen Islamismus zu lesen ist, der auf friedlichem Weg die Gesellschaft schrittweise in einen Gottesstaat umwandeln will, seine wahren Ziele kaschiert und sich pragmatisch mit dem jeweils Erreichbaren zufrieden gibt, oder als neues parteipolitisches Profil. Die über weite Strecken gemäßigten Töne passen jedenfalls nicht recht zusammen mit dem politischen Herkunftsmilieu der DAVA-Vertreter und deren Äußerungen beispielsweise zu Israel. Der Europawahl-Kandidat Mustafa Yoldas leitete eine Organisation, die das Bundesinnenministerium wegen Unterstützung der Hamas verbot.
Die deutsche Regierung darf sich über die neue Konkurrenz nicht beschweren. Diese ist die konsequente Fortschreibung ihrer Minderheitenpolitik mit türkisch-islamischer Note. Einen ethnopluralistischen Einschlag lässt die Forderung im Parteiprogramm erkennen, Pflegekinder seien möglichst nicht an Eltern aus anderen Kulturkreisen zu geben.
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