Populismus trotz Wirtschaftskrise, Pandemien und Krieg. Populistische Bewegungen, von links und rechts, meist mit nationalistischen oder religiösen Untertönen verbunden, infiltrieren immer mehr unsere globalen Gesellschaften.
„Es ist die Wirtschaft, dumm!“, sagte ein Berater des US – Präsidentschaftskandidaten Bill Clinton im Jahr 1992. Er kandidierte damals gegen den amtierenden Präsidenten George HW Bush. Die US Wirtschaft befand sich damals in einer Rezession, wie Clinton während seiner Kampagne betonte. Schließlich gelang es ihm Bush im Zuge des Wahlkampfes zu schlagen. Das Sprichwort wurde zum Prinzip des Glaubens: Wer Reichtum schafft oder die Wähler überzeugt, dass er dies tun wird, ist sicher erfolgreich.
Heute ist die Bedeutung dieses Sprichworts nicht mehr so einfach. Seit Mitte der 1990er Jahre haben populistische Parteien und Politiker in vielen Demokratien gezeigt, dass das Gegenteil auch der Fall sein kann. „Identität der Wirtschaft“: Kulturkampf und Ethno – Nationalismus Outdo Wirtschaftspolitik. Wer es schafft, die Ablehnung des gesellschaftlichen Wandels und die Ängste der Menschen zu artikulieren, gewinnt Wahlen. Auch wenn er schlechte Wirtschaftspolitik macht oder den wirtschaftlichen Interessen seiner eigenen Wählerschaft schadet. Werte und Identitäten bestimmen Abstimmungsentscheidungen – nicht Reichtum. Die Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist ein exemplarisches Beispiel dafür. 52,2 Prozent der Türken wählten ihn im Zuge der Stichwahl, obwohl sich die Türkei seit 2018 in einer schweren Wirtschaftskrise befindet. Erdogan gewann die Wahl, obwohl die Preise auf Sesamringe stark anstiegen und trotz einer hohen Jugendarbeitslosenrate.
Warum sind autoritäre Populisten auch dann erfolgreich, wenn sie ihre Länder niederwirtschaften? Ist die Türkei ein Extrembeispiel dafür? Was bedeutet dieser Umstand für westliche Politiker, die darauf hoffen, der identitären Spaltung in der Gesellschaft durch mehr Chip – und Batteriefabriken im Rust Belt der USA oder in strukturschwachen Regionen in Europa entgegenwirken zu können?
Der wenn man so möchte Urknall der Identitätspolitik war der Brexit. Wirtschaftlich sprach zum damaligen Zeitpunkt fast alles dagegen, jedoch entschied sic him Jahr 2016 eine Mehrheit der Wähler für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Die Wählerschaft wurden vorab davor gewarnt, dass Großbritannien durch den Brexit wirtschaftlich leiden wird, allerdings war sich die Masse der Wählerschaft einig, dass es wichtiger sei, „die Kontrolle zurückzugewinnen“-„um die Kontrolle zu übernehmen“, wie der Brexit-Slogan lautete. Der vermeintliche Schutz, ein Brite zu sein, zählte für die Wählerschaft mehr, als mögliche wirtschaftliche Herausforderungen.
Nach seinem Wahlsieg 2016 in den USA nahm auch Donald Trump wenig Rücksicht auf die Lage derer, die ihn und seine Wirtschaftspolitik gewählt hatten. In seiner Amtszeit tauchten die Republikaner als Stimme der Verlierer der Globalisierung und der Linken auf. Auf diese Weise gewannen sie Stimmen aus der unteren Mittelschicht. Millionen weiße Männer, meist ohne College – Abschluss und dadurch mit relativ niedrigem Einkommen, unterstützten Trump bei der Wahl, wählten ihn vier Jahre später im Rennen gegen den aktuellen US Präsidenten Joe Biden wieder und stehen auch heute noch loyal zu ihm. Trumps Steuerreform, die im Jahr 2018 in Kraft trat, war ein milliardenschweres Geschenk für amerikanische Spitzenverdiener und Großkonzerne. Im aktuellen Streit um die Anhebung der Schuldengrenze würden die Kürzungspläne seiner Republikaner die untere Mittelschicht besonders hart treffen. Trump macht also Politik gegen seine Wähler, die ihn jedoch nach wie vor unterstützen.
Das Ergebnis der Wahlen in Israel im letzten Herbst ist alleine schon aus der Perspektive der Wirtschaftspolitik schwer zu verstehen. Die Preise im Land sind mittlerweile abenteuerlich teuer. Laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Israel Democracy Institute sind die Lebenshaltungskosten bei weitem die beunruhigendsten Probleme, mit denen die Bevölkerung in Israel konfrontiert ist. Eine deutliche Mehrheit von 60 Prozent glaubt auch, dass die Regierung in erster Linie für das Problem verantwortlich ist. Dennoch wird die öffentliche Debatte von einer ideologischen Frage beherrscht. Die rechtsradikale Koalition von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will (erhebt bis dato jedoch keinen Anspruch), die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs beschneiden und behaupten, dies sei ein befreiender Schlag gegen eine linksliberale Elite, die den Menschen gemäß ihrer Einstellung fremd sei.
Das Muster ist also ein alt bekanntes – es wurde in der Türkei im Zuge der Präsidentschaftswahlen nur auf extremer Weise wiederholt. Zugegeben, die schlechte Wirtschaftslage war neben Fragen der Identität noch vor dem ersten Wahlgang ein Thema. Erdogan tat alles, um die Inflationsrate zeitweise zu senken, was 65 Prozent zum Ende des Jahres 2022, verglichen mit 43,7 Prozent im April 2023, also unmittelbar vor den Wahlen entsprach. Unmittelbar vor dem zweiten Wahlgang, der tatsächlichen alles entscheidenden Stichwahl verlagerten beide Kandidaten jedoch ihre Rhetorik auf identitäre und nationalistisch aufgeladene Themen. Erdogan markierte den harten und entschlossenen Staatschef und kündigte den Kampf gegen den kurdischen Terrorismus an. Auch sein politischer Gegner Kemal Kilicdaroglu versprach, genauso wie Erdogan auch syrische Flüchtlinge aus der Türkei zurückzuführen.
Politische Experten waren von Erdogans Neuwahl allerdings nicht überrascht. Die aktuelle Wirtschaftslage spielt bei Wahlen in Ländern mit starken populistischen Parteien eine untergeordnete Rolle. Vielmehr weisen die Experten auf komplexere Zusammenhänge hin, um das Phänomen zu erklären: Seit den 1960er und 1970er Jahren sind Werte in vielen Demokratien wichtiger als materielle Probleme und Herausforderungen. Durch ein bereits relativ hohes Wohlstandsniveau, spielten bei vielen Wählern zunehmend auch nichtmaterielle Themen eine Rolle: Umweltschutz zum Beispiel oder etwa die Gleichstellung von Männern, Frauen und Minderheiten. Liberale Werte, wie die Toleranz gegenüber verschiedenen sexuellen Identitäten, sind inzwischen zum Mainstream geworden, und die Bedeutung von Religion nahm für die Bevölkerung zunehmend ab.
In vielen westlichen Gesellschaften – und auch in der Türkei – kehren konservative Haltungenmehr und mehr zurück. Je nach Land können bis zu 45 Prozent der Wählerschaft hinzukommen. Menschen, die solche Werte vertreten, fühlten sich in vielen Ländern zunehmend an den Rand gedrängt der Gesellschaft gedrängt. Die Artikulation ihrer Ängste kann sie jedoch schlagartig mobilisieren. Diese Beobachtung wird als „kultureller Gegenschlag“ bezeichnet.
Welche Werte für einen Backlash geeignet sind, unterscheiden sich von Land zu Land. Ganz einfach ausgedrückt könnte man sagen, dass sich in Großbritannien die Menschen vom europäischen Kontinent bedroht fühlten. In Polen gibt es Bedenken, dass traditionelle katholische Werte durch die Legalisierung von Abtreibung oder gleichgeschlechtlicher Ehe verloren gehen. In Israel mobilisiert sich der Wunsch nach einem jüdischen Staat. Erdogan wiederum verkörpert den Sieg konservativer, gläubiger Türken über die kemalistische Elite, die das Land jahrzehntelang regierte und symbolisiert den islamischen Glauben und Stolz in einer türkischen Nation, die klar zeigt, dass der Westen nicht gebraucht wird.
Die Motive variieren, aber die Einsicht bleibt: Es ist nicht die Wirtschaft, es ist die Identität der Wähler, die Wahlen entscheidet.
Dieser Umstand ist ein Problem für die Demokratie. Man kann über die richtige Steuerpolitik, Fragen der Umverteilung, Konjunkturmaßnahmen oder Arbeitsmarktpolitik streiten, aber Kompromisse lassen sich in der Wirtschaftspolitik finden. Werte und Identitäten werden hingegen als absolut verstanden. Sie sind nicht teilbar und man kann sich nicht in der Mitte treffen. Sie werden als existenziell empfunden – genau wie materielle Fragen.
Demokratien leben auch davon, dass Politiker für das, was sie tun, Rechenschaft abzulegen haben. Eine Wahl ist, zumindest in der Theorie, auch eine Abstimmung über den Erfolg der Regierung und die Qualität der verschiedenen Angebote bzw. Wahlversprechen. Wirtschaftsindikatoren wie die Arbeitslosenquote, das Lohnniveau und die Verteilung des Wohlstands in der Gesellschaft könnten jene Faktoren sein, die interpretierbar, zumindest aber überprüfbar sind, vor allem im postfaktischen Alter. Aber ihre Rolle scheint untergeordnet. Natürlich basiert die Abstimmung immer auf einem Gefühl der Zugehörigkeit. Wenn aber absurde wirtschaftliche Entscheidungen, wie etwa in der Türkei Zinssenkungen inmitten einer Phase der Inflation mit einem Wahlerfolg belohnt werden, scheint das Prinzip der Rechenschaftspflicht teilweise untergraben.
Zudem überschneiden sich Identitätspolitiken zunehmend und durchdringen wirtschaftspolitische Themen. Themen wie der grüne Wandel der Wirtschaft, Windräder, Solarparks oder der Straßenverkehr werden mit Identitätspolitik belastet. Es wird nicht mehr über die Angelegenheit per se debatiert, sondern über Werte und Lebensstiele. Beide politischen Lager, sowohl Populisten als auch Progressisten beteiligen sich daran. Automatisch werden dadurch die demokratischen Verhandlungen über diese Fragen und die Suche nach möglichen Kompromissen erschwert.
Dennoch sehen die Mainstream – Politiker noch immer eine Wirtschaftspolitik für die untere Mittelschicht als Rezept für den Kampf gegen den Populismus. Kann die Wut und der geschwungene Stolz temperiert und die politische Konsolidierung herbeigeführt werden? Kann wirtschaftliche Erholung die Identitätspolitik zurückdrängen?
Es gibt tatsächlich Hoffnung, dass die Entwicklung umkehrbar ist. In Großbritannien zum Beispiel hat sich die Stimmung zuletzt geändert; die Lage ist wieder pragmatischer geworden. Premierminister Rishi Sunak hat eine Nordirland – Vereinbarung mit der EU getroffen, die vorsieht, dass London ein bisschen an Souveränität aufgibt, anstatt einen Handelskrieg mit Europa zu riskieren. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es eine weitere Renaissance der Identitätspolitik auf dem rechten Flügel der Konservativen geben wird, angefeuert durch nationalpopulistiger Polemik gegen zu viel Zuwanderung und ein linksschießendes Bildungssystem. Aber es gibt nichts, was darauf hindeutet, dass die britischen Wähler heute noch immer einen amerikanisch – stilvollen Dauerkulturkrieg attraktiv finden. Dies erforderte jedoch einen beinahe Einbruch der britischen Wirtschaft in der Amtszeit von Liz Truss.
In einigen Ländern, die von Populisten regiert werden, lässt sich auch beobachten, dass populistische Parteien sich nicht allein auf Kultur und Kriegsbotschaften verlassen. In Polen versucht die PiS, sich während des Wahlkampfs gegen die deutsche Stimmung aufzulehnen. Doch weil die hohe Inflation von 16 Prozent die Wähler mehr schrecken könnte als die deutsche Überlegenheit, versprach PiS-Chef Jarosław Kaczyński Hilfe. Der Kindergeld wird im nächsten Jahr von umgerechnet 100 auf 177 Euro angehoben.
Auch die französische Populistin Marine Le Pen spricht derzeit mehr über Gerechtigkeit als über Migration. Neben dem Krieg in der Ukraine ging es im Fokus des letzten Präsidentschaftswahlkampfs in Frankreich auch um die Inflation und den Verlust der Kaufkraft. Beides sind klassische wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Themen.
Wenn also sogar Populisten denken, sie müssten mit den gesellschaftspolitischen und wirtschaftspolitischen Angeboten des Zentrums konkurrieren bedeutet das vielleicht auch, dass ihre Wählerschaft mit den einhergehenden Problemen, der Bestätigung ihrer Werte und Haltungen auf Dauer nicht zufrieden sind?
Soziale Maßnahmen und keynesianische Wirtschaftspolitiken allein reichen nicht aus, um den autoritären Populismus zu stoppen. Die Mainstream – Politiker müssen Maßnahmen wie die Anhebung des Mindestlohns oder die gezielte Ausrichtung von Unternehmen in wirtschaftlich schwachen Regionen mit einer umfassenden Rhetorik kombinieren: mehr Kredite für die hart arbeitende untere Mittelschicht – und ein paar Einschnitte für diejenigen, die glauben, sie seien besser dran.
In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob das reicht. Die Wahlen finden im Herbst 2024 in den USA statt, ebenso in drei ostdeutschen Bundesstaaten, in denen die AfD stark vertreten ist. In Polen ist bereits 2023 soweit. In diesen Ländern treten Christdemokraten, gegen Liberale, Grüne und Sozialdemokraten gegen Populisten an. Es ist ein Kampf um Prioritäten, um Werte und um Identität. Die Frage die sich stellt ist: wie wichtig ist Identität für ein gutes Leben?
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