Als die Autos der Geheimpolizei auftauchten, hatten die Demonstranten in der Innenstadt von Damas-kus gerade ihre Reise begonnen. Mehrere Männer sprangen heraus und zogen Ahmad in einen Bus. Er hatte die Mitglieder einer Frauenorganisation gefilmt, die gegen Präsident Bashar al Assad protestier-ten, und seine Frau nahm ebenfalls an der Demonstration teil.
Ahmad wurde in den Komplex in der Bagdad Street gebracht, eine angsteinflößende Adresse. wie die Lyublyanka in Moskau: die eines Folterzentrums. Die Wachen brachten Ahmad in den Keller des Ge-fängnisses und in den Tagen, nachdem sie ihn mit Elektrokabeln auf Rücken und Füße geschlagen hatten, bis sie so geschwollen waren, dass er nicht mehr laufen konnte. Am Ende der ersten Woche jagten sie Elektroschocks durch seinen nackten Körper, gossen kaltes Wasser über ihn und schalteten den Strom wieder ein. Einmal brachten ihn die Wachen in den ersten Stock, in das Büro des Mannes, der anscheinend für alle Folterungen verantwortlich war: Anwar R., der Kommandeur des Gefängnis-ses. Das war im Jahr 2011.
Neun Jahre später werden sich Ahmad und Anwar R. wieder treffen. Diesmal ist es jedoch Anwar R., 57, der in Berlin im Gefängnis sitzt. Ende April soll der Prozess gegen ihn und einen weiteren ehema-ligen Geheimdienstoffizier vor dem Oberlandesgericht Koblenz beginnen. Die Bundesanwaltschaft beschuldigt R., für den Tod von 58 Menschen und die Folter von mindestens 4.000 Gefangenen ver-antwortlich zu sein. Ahmad wird als Zeuge aussagen.
Der Prozess soll den Opfern Gerechtigkeit bringen. Es ist aber auch ein Signal an den syrischen Herr-scher Bashar al-Assad und andere Diktatoren, dass die Welt nicht vergessen wird. Und diese deutsche Justiz wird nicht schlafen, wenn sie von solchen Handlungen im Foltergefängnis in Damaskus erfährt.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit können seit 2002 von der deutschen Justiz strafrechtlich ver-folgt werden, auch wenn sie nicht in Deutschland begangen wurden oder wenn Deutsche zu den Tä-tern oder Opfern gehören. „Dieser Prozess gegen Mitglieder des Assad-Regimes zeigt, dass wir in Deutschland bereit sind, solche Verbrechen auch in Zukunft konsequent zu verfolgen“, sagte Bundes-anwalt Peter Frank. „Wir dürfen kein sicherer Hafen für Kriegsverbrecher oder aktive Teilnehmer an einem Völkermord werden.“
Denn Anwar R., 57, geboren in Homs, sieben Kinder, ist nicht nur ein mutmaßlicher Täter. Obwohl er jahrelang dem Assad-Regime treu gedient hatte, war er auch der erste prominente Deserteur, der Syrien verließ und sich gegen die Opposition verteidigte. Er wurde nicht nur verfolgt, er wurde auch verfolgt. Als er im Sommer 2014 nach Deutschland kam, beantragte er politisches Asyl.
In jedem totalitären Staat gibt es Männer wie Anwar R., die Befehle von oben erhalten und dennoch genug Macht haben, über Leben und Tod zu entscheiden. Männer, ohne die kein totalitäres System überleben kann. Männer, die für ihre Treue belohnt werden. Anfang 2011 wurde Anwar R. zum Oberst befördert, jetzt war er einer dieser Männer.
Der syrische Aufstand begann kurz danach.
Im März 2011 gingen Tausende Syrer auf die Straße, zunächst nur in der kleinen Stadt Dara, dann überall wehte ein Hauch von Freiheit durch das unterdrückte Land.
In Damaskus berief Präsident Bashar al-Assad die Leiter der Geheimdienste, der Polizei und der Ar-mee ein. Am 20. April 2011 beschloss die Gruppe, den Aufstand mit Gewalt niederzuschlagen.
Kurz darauf versammelten sich Schätzungen zufolge zwischen 3.000 und 6.000 Menschen in der Duma nordöstlich von Damaskus zu einer Demonstration in der Hauptmoschee, tanzten auf der Straße und riefen „Bashar, geh weg!“
Irgendwann hielt ein dunkler Mercedes an, sagt der zweite Angeklagte im Prozess, Anwar Rs ehemali-ger Kollege Ejad A., der zu der Zeit dort war. Hafis Machluf, Assads Cousin, stieg mit einer Maschi-nenpistole oder einer halbautomatischen Waffe in der Hand aus dem Mercedes, schoss in die Menge und rief: „Wer den Präsidenten liebt, sollte die Verräter erschießen.“ Panik brach aus. Fünf der De-monstranten fielen zu Tode, Assads Hasen jagten Menschen durch die Straßen und verhafteten dieje-nigen, die nicht rechtzeitig entkommen konnten. Die Gefangenen wurden in Busse gescheucht und ins Gefängnis in der Bagdad Street gebracht.
Das Internierungslager besteht aus mehreren Gebäuden, die hinter einer hohen Mauer liegen und mit-einander verbunden sind. Das Büro von Anwar R. befand sich im ersten Stock, im Erdgeschoss waren rund 30 Wachen im Einsatz, und Treppen führen in den Keller, in dem sich die Zellen befinden, wie ehemalige Gefangene es beschreiben. Der Komplex ist für hundert Personen ausgelegt. Doch nach dem Beginn des Arabischen Frühlings stieg die Zahl der Gefangenen sprunghaft an, so dass sich mehr als 400 Menschen im Kerker im Keller drängten. Einige der Zellen waren so überfüllt, dass die Gefan-genen im Stehen schlafen mussten, Toilettenbesuche nur einmal am Tag erlaubt waren und die hygie-nischen Bedingungen katastrophal waren. In Abteilung 251 gab es praktisch kein Verhör ohne Folter, hieß es in der Anklage.
Manchmal verwendeten die Vernehmer eine Methode namens „Dulab“, bei der die Insassen in einen Autoreifen gezwungen und geschlagen und getreten werden. Eine andere Foltermethode, der „fliegen-de Teppich“, band die Gefangenen an ein Brett und misshandelte sie; Ein Scharnier ermöglicht es, den Unterkörper zu öffnen, bis die Gefangenen vor Schmerz brüllen. Und dann war da noch der „deutsche Stuhl“, bei dem die Hände hinter einem beweglichen Metallstuhl gebunden sind und die Wirbelsäule nach hinten gestreckt wird, bis die Wirbel herausspringen – oder die Wirbelsäule bricht.
Die Wachen widmeten dem Gefangenen Ahmad, der die Frauendemonstration in Damaskus filmte, besondere Aufmerksamkeit: Er stammt aus einer berühmten Familie, sein Großvater war in den 1940er und 1950er Jahren Teil der syrischen Regierung. Ahmad selbst leitete bis zu seiner Verhaftung eine Kosmetikfirma in der Gegend um Damaskus, und seine Handcremes wurden in viele arabische Länder exportiert.
Als die Wachen ihn zur Befragung abholten, gab ihm ein älterer Insasse Ratschläge: »In dieser Situati-on gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder die Zähne zusammenbeißen und Stärke zeigen oder die ganze Zeit schreien.“
Es gab zwei Arten von Geheimdienstoffizieren im Gefängnis. Die Wachen, die sich um die Gefange-nen kümmerten und sie auf Anweisung missbrauchten. Und die Vernehmer, die die Folterwerkzeuge wie ein Metzgermeister benutzten. „Sie haben viel gelacht“, sagt Ahmad, „sie haben es genossen.“ Den Gefangenen wurde nichts angetan, sagt Mahamad A., 37, der als Sicherheitsbeamter im Gefängnis diente und schließlich verlassen war, weil er die Gräueltaten nicht länger ertragen konnte.
Die Folter endete erst, als der Gefangene in Ohnmacht fiel, erinnert sich Ejad A., 43, der zweite Ange-klagte, der 16 Jahre lang in verschiedenen Geheimdiensten gedient hatte, bevor er nach Deutschland floh.
Mindestens 58 Menschen seien zwischen dem Beginn des Arabischen Frühlings und Ahmads Flucht im September 2012 im Al Chatib-Gefängnis getötet worden, heißt es in der Anklage der Staatsanwalt-schaft. Bei ihren Ermittlungen in ganz Europa befragten die Staatsanwälte rund hundert Zeugen, ehe-malige Bürgerrechtler und Folteropfer sowie Überläufer. Die Anklage basiert auch auf der forensi-schen Untersuchung von rund 28.000 Fotos eines ehemaligen syrischen Militärfotografen mit dem Pseudonym „Caesar“, dessen Aufgabe es war, Leichen zu fotografieren, und der die Bilder aus dem Land geschmuggelt hat – darunter viele Fotos von Toten.
Kurz vor Weihnachten 2012 floh Anwar R. mit seiner Frau und fünf seiner Kinder nach Jordanien – und nahm eine erstaunliche Veränderung vor: Er berät jetzt den syrischen Widerstand gegen Assad. Anwar R. wurde sogar zum Militärsprecher der Exilopposition ernannt, sagt Kefa Ali Deeb, der zu der Zeit den Widerstand anführte. Das deutsche Außenministerium in Berlin bestätigte auch „eine aktive und sichtbare Rolle von Herrn R. innerhalb der syrischen Opposition“. Der deutsche Geheimdienst bestätigt, dass R. sein Insiderwissen aus seinen 18 Jahren an den Geheimdienst der Opposition weiter-gegeben hat.
Anwar R. fliegt in Anzug und Krawatte nach Genf und Istanbul, zu den internationalen Friedensge-sprächen des Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen. Das Gefängnis in der Bagdad Street scheint jetzt sehr weit weg zu sein.
Aber nicht alle glauben an die wundersame Veränderung des Assad-Dieners zum Systemfeind. Der Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni zum Beispiel, der vorübergehend im Gefängnis in der Bagdad Street misshandelt wurde, behauptet: „In ganz Damaskus war bekannt, dass Anwar R. der brutalste Folterer des Regimes war.“
Im Sommer 2014 zog Anwar R. mit seiner Familie nach Deutschland, beantragte Asyl und erhielt eine Aufenthaltserlaubnis. Im Nordosten Berlins finden er und seine Familie eine Wohnung in einer ruhi-gen Neuentwicklung. Ein schneeweißer Plüschhund lächelt jedem Besucher freundlich vom Fenster-brett zu. Der Kontrast zum Bürgerkrieg könnte kaum größer sein.
Der Konflikt hat jedoch seine Spuren hinterlassen. R. hat seit mehreren Jahren hohen Blutdruck. Im Februar 2015 ging er in die Praxis eines syrischen Arztes in Berlin-Tempelhof. Als Anwar R. im War-tezimmer sitzt, schaut er aus dem Fenster. Auf der Straße glaubt er zwei Männer auf und ab gehen zu sehen und misstrauisch zu starren. Als er das Zimmer des Arztes verlässt, sind die Männer immer noch da, nur als R. sich ihnen nähert, springen sie in ein Auto und fahren weg.
Einige Tage später besucht R. einen Zahnarzt. Als er am späten Morgen aus dem Training kommt, ste-hen zwei arabisch aussehende Männer im Weg und starren ihn an, damit er es später melden kann. R. ist jetzt überzeugt, dass der syrische Geheimdienst ihn beobachtet. Er meldet sich bei der Polizei. Und beginnt zu erzählen, seine Aussage wird aufgezeichnet. Das Verhörprotokoll lautete, als würde R. hauptsächlich mit der Polizei sprechen, um zu verdeutlichen, warum das syrische Regime ihn jetzt sucht. Er erzählt von seiner Zeit in Syrien. Vom Geheimdienst. Und aus Abteilung 251.
Was R. nicht weiß, ist, dass der deutsche Generalstaatsanwalt für Ermittlungen bei Verdacht auf Spio-nage verantwortlich ist. Und auch für Ermittlungen gegen Kriegsverbrecher.
Die Staatsanwaltschaft in Karlsruhe, wo sich das Hauptquartier befindet, prüft den Bericht, den die Berliner Landeskriminalpolizei an sie weitergeleitet hat. Sie weigern sich, die Untersuchung wegen Spionageverdachts zu übernehmen: Der Verdacht ist zu vage.
Als Anwar R. jedoch während eines zweiten Verhörs erneut ausführlich über seine Zeit in Syrien be-richtete, leitete der Generalstaatsanwalt eine weitere Untersuchung ein – gegen Anwar R. selbst wegen möglicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Nach monatelangen Ermittlungen wird er am 12. Februar 2019 festgenommen. Der Mann, der so lange dem syrischen Geheimdienst gedient hat, sein Büro in einem Foltergefängnis hatte und sich jetzt von Assads Männern bedroht fühlt, hat mit Hilfe des Deutschen Schutz gesucht Polizei – und landet selbst im Gefängnis.
Wenn Anwar R. über sich und das Gefängnis in der Bagdad Street spricht, klingt er kaum anders als sein ehemaliger Präsident. Als Bashar al-Assad im November 2019 von einem Reporter eines russi-schen Fernsehsenders nach der Verhaftung von Anwar R. gefragt und nach den Ermittlungen der deut-schen Justiz gefragt wurde, sagte der Diktator: „Wir praktizieren keine Folter. Warum sollten wir Men-schen foltern? Es ist nicht unsere Politik. “
Der ehemalige Gefangene Ahmad hat bis heute Angst. Nachdem er einige Zeit in der Bagdad Street festgenommen worden war, wurde er in ein anderes Gefängnis verlegt und einige Tage später freige-lassen. 2013 floh er über den Libanon nach Deutschland. Heute lebt er in Nordrhein-Westfalen, lernt Deutsch und bekommt seinen Führerschein. Er hofft, bald wieder arbeiten zu können.
Im Gegensatz zu vielen Folteropfern freut sich Ahmad, persönlich an dem Prozess teilnehmen zu können. Er hatte keine Angst davor, Anwar R zu treffen. „Für mich ist die Tatsache, dass dieses Ver-fahren überhaupt stattfinden kann, eine Form der Gerechtigkeit, für die ich Deutschland danke“, sagt er. Die Anwälte von Anwar R. und Ejad A. wollen sich zur Anklage der Staatsanwaltschaft nicht äu-ßern.
Generalstaatsanwalt Peter Frank, der auch Haftbefehle gegen mehrere andere hochrangige syrische Geheimdienstagenten erlassen hat, beschuldigt Anwar R., sich „kleinerer Motive“ für Mord und Folter schuldig gemacht zu haben. Wenn das Gericht der Anklage folgt, droht R. eine lebenslange Haftstrafe, möglicherweise sogar mit anschließender Sicherungsverwahrung. Er würde dann den Rest seines Le-bens in einem deutschen Gefängnis verbringen müssen.
Menschenrechtsorganisationen berichten, dass im Gefängnis in der Bagdad Street immer noch Folte-rungen stattfinden.