Die Beteiligung an den Nachwahlen zum iranischen Parlament war so niedrig, dass die Regierung die entsprechenden Zahlen gar nicht erst bekannt gab. Die Zeitung „Farhikhtegan“ berichtete unter Berufung auf inoffizielle Angaben des Innenministeriums, dass in der Hauptstadt Teheran nur acht Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben hätten. Im ersten Wahlgang im März hatten sich landesweit nach offiziellen Meldungen 41 Prozent beteiligt. Schon das war der niedrigste Wert seit Gründung der Islamischen Republik. Dennoch priesen Staatsmedien nach der Verkündung der Ergebnisse die „glorreiche Beteiligung“.
Bei der Nachwahl wurde über die letzten 45 der 290 Parlamentssitze entschieden. In Iran werden keine Parteien gewählt, sondern Personen. Es gibt keine festen Koalitionen, sondern wechselnde Mehrheiten und Zugehörigkeiten zu verschiedenen Gruppen. Eine genaue Zuordnung der Abgeordneten ist deshalb schwierig. Nach einer Analyse der Nachrichtenagentur AP gehören nun 233 der 290 Abgeordneten dem Lager der Hardliner an. Das liegt daran, dass die meisten gemäßigten und reformorientierten Kandidaten vorab vom Wächterrat disqualifiziert wurden. Einen Tag vor der Nachwahl wurde eine Audioaufnahme veröffentlicht, in der der frühere Präsident Mohammad Khatami zum ersten Mal dazu aufrief, nicht wählen zu gehen. Er gehört zu den führenden Stimmen der Reformer. „Lasst uns auf der Seite der Menschen stehen und sagen, dass wir nicht an den Wahlen teilnehmen werden, solange der Wächterrat existiert“, sagte Khatami darin laut Medienberichten. Die Reformer hätten den Wächterrat vergeblich „angebettelt“, ihnen drei Sitze im Parlament zu gewähren.
Da keine Parteien gewählt werden, konzentriert sich die Debatte in Iran darauf, welche Politiker die meisten Stimmen erhalten haben. Angeführt wird die Rangliste von drei radikalen Abgeordneten der ultrakonservativen Stabilitätsfront (Paydari-Front), die rund hundert Sitze errang. Die Gruppe vereint die schärfsten Kritiker des Atomabkommens von 2015. Sie betrachten Moderate als Verräter und militärische Zurückhaltung als Zeichen der Schwäche. Im Streit um die Kopftuchpflicht dringen sie auf ein hartes Vorgehen, während pragmatischere Kräfte davor warnen, die Spannungen in der Bevölkerung weiter anzuheizen. Ideologisch folgt die Stabilitätsfront der Denkschule des 2021 verstorbenen Ajatollah Taqi Mesbah Yazdi. Die Wahlen spiegeln eine grundsätzliche Machtverschiebung wider: Die Regierung hat wichtige Posten mit Vertretern der Front besetzt. Auch in der Revolutionsgarde haben die jungen religiösen Hardliner zuletzt an Einfluss gewonnen.
Seit Moderate und Reformer von allen Hebeln der Macht verdrängt wurden, hat sich der Machtkampf innerhalb des Lagers der Hardliner verschärft – auch in Erwartung eines politischen Umbruchs nach einem Ableben des 85 Jahre alten Obersten Führers Ali Khamenei. Schlechter als erwartet schnitten traditionelle Konservative wie der bisherige Parlamentssprecher Mohammad Bagher Ghalibaf und seine Unterstützer ab. Es wird sich nun zeigen, auch nach dem Tod von Präsident Raisi, ob es den Radikalen gelingt, den Sprecherposten für sich zu beanspruchen. Das Amt ist schon deshalb wichtig, weil der Sprecher auch Mitglied des Obersten Nationalen Sicherheitsrats ist.
Das Erstarken der Ideologen im Parlament fällt zusammen mit einer veränderten iranischen Außen- und Sicherheitspolitik. „Irans Ära der strategischen Geduld ist vorbei“, schrieb der stellvertretende Stabschef des Präsidenten, Mohammad Dschamschidi, kürzlich. Bis vor einem Monat hatte Iran auf die Tötung von Atomwissenschaftlern und Revolutionsgardisten durch Israel nicht mit direkter Vergeltung reagiert, sondern die Milizen der sogenannten „Achse des Widerstands“ gegen Israel in Stellung gebracht. Das nannte Khamenei „strategische Geduld“. Doch im April griff Iran Israel erstmals direkt an. Der Chef der Revolutionsgarde, Hossein Salami, sprach anschließend von einer „neuen Gleichung“ im Abschreckungswettbewerb mit Israel.
Auch in der Atompolitik schlägt Teheran neue Töne an. Der für den Schutz der Atomanlagen zuständige Kommandeur Ahmad Haqtalab sagte, Iran könne seine Nukleardoktrin überdenken, wenn Israel mit dem Angriff auf iranische Atomanlagen drohe. Diese Position bekräftigte der Leiter der Denkfabrik Strategic Foreign Relations Council, der Revolutionsführer Khamenei berät. Iran habe „keine andere Wahl“ als seine Doktrin zu ändern, wenn Israel seine Existenz bedrohe, sagte Kamal Kharrazi.
Bisher hatte Iran stets bestritten, Atomwaffen anzustreben, und auf eine entsprechende Fatwa Khameneis verwiesen, wonach Massenvernichtungswaffen „haram“ seien. Das Lavieren an der Schwelle zur Bombe nutzte das Land als Hebel in inoffiziellen Verhandlungen mit den USA über Sanktionserleichterungen. Offenbar durchaus mit Erfolg: In den ersten drei Monaten des Jahres konnte Iran trotz Sanktionen so viel Öl exportieren wie seit 2018 nicht mehr, vornehmlich nach China. Doch womöglich hat sich das Kalkül in Teheran verändert. Fachleute sagen, dass Iran sich durch die jüngste Konfrontation mit Israel geschwächt fühlen und zur Verstärkung seiner Abschreckung nach der Bombe greifen könnte. Die Heißsporne im Parlament, die in dieser Frage wenig zu sagen haben, sind da schon einen Schritt weiter. Der wiedergewählte Abgeordnete Ahmad Bakhschajesch Ardestani behauptete jüngst in einem Interview, Iran sei schon längst Atommacht.
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