Von Ghazaleh Vaziri, Brüssel
Die als „No Hijab Day“ bezeichnete Aktion des Collectif Némésis machte die Bewegung in Frankreich schlagartig bekannt, als eine Gruppe junger Frauen 2021 auf dem Trocadéro-Platz in Paris auftaucht. Die etwa dreissig Mitglieder des Collectif Némésis haben sich alle in einen schwarzen Nikab gehüllt. Vor der Silhouette des Eiffelturms entrollen sie ein Transparent mit der Aufschrift: „Die Französinnen in 50 Jahren?“. In Interviews erklären sie, dass sie nach einer Antwort auf den „World Hijab Day“ gesucht hätten. Dieser Tag wurde von einer amerikanischen Muslimin ins Leben gerufen, um für Offenheit gegenüber Kopftuchträgerinnen zu werben. Frauen in aller Welt werden ermuntert, selbst einmal den Hijab anzulegen. Kritiker sehen darin eine Propagandaaktion islamistischer Kreise.
Zwei Jahre später wiederholen die Aktivistinnen ihren „No Hijab Day“, dieses Mal am Fuss der Sacré-Cœur auf dem Montmartre. Gekleidet zur Hälfte in schwarze Nikabs, zur Hälfte in weisse Gewänder, stellen sie sich auf die Stufen vor die Basilika und entrollen ein Transparent, auf dem die Frage „Welche Zivilisation wollen Sie?“ steht.
Das Collectif Némésis – benannt nach der griechischen Göttin des Zorns und der vergeltenden Gerechtigkeit – wurde im Oktober 2019 gegründet. Sie hätten damals mit den Themen Einwanderung und Islam und deren Folgen für die Sicherheit von Frauen ein neues Aktionsfeld für den Feminismus besetzen wollen, erzählt die Leitung. Andere feministische Themen wie Lohngleichheit oder politische Gleichberechtigung hätten sie bewusst ausgeklammert.
Linke Frauenrechtlerinnen wie die Gruppe „Nous Toutes“ sprechen ihnen deswegen ab, überhaupt feministisch zu sein. Sie kritisieren, dass das Collectif Némésis geschlechtsspezifische Gewalt auf Migranten und Muslime reduzieren wolle. Die Aktivistinnen, urteilte kürzlich das linksliberale Leitmedium „Le Monde“, seien in Wahrheit Rassistinnen und „Identitäre, die sich als Feministinnen tarnen“.
Diese wollen den Vorwurf nicht gelten lassen. Sie kritisieren, dass viele Feministinnen sexuelle Übergriffe durch bestimmte Tätergruppen ausblendeten. „Wir sind sogar sehr feministisch, weil wir uns mit der Gewalt befassen, die Frauen erleiden, weil sie Frauen sind“, sagen sie. Die Zahl der Belästigungen und Gewalttaten auf der Straße sei nun einmal signifikant gestiegen, und überproportional daran beteiligt seien Männer aus dem islamischen Kulturkreis: „Wir denken, dass es eine schlechte Idee ist, massenhaft Männer, die ein reaktionäres Frauenbild haben, zu uns kommen zu lassen.“ Um ihre Position zu untermauern, verweisen die Aktivistinnen auf eine Studie des französischen Innenministeriums aus dem Jahr 2020. Laut dieser entfallen 63 Prozent aller sexuellen Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln im Ballungsraum Paris auf Personen ohne französische Staatsbürgerschaft, obwohl der Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Region nur 14 Prozent beträgt. Überrepräsentiert sind demnach Verdächtige aus dem Maghreb und aus Subsahara-Afrika. Eingebürgerte Personen tauchen in den Statistiken erst gar nicht auf.
Die Aktivistinnen polemisieren vor allem gegen die politische Linke, gegen die „Mainstream-Medien“ und gegen eine Justiz, der sie Laxheit vorwerfen. Haftstrafen von durchschnittlich zehn Jahren für Vergewaltiger wirkten nicht abschreckend genug, finden sie, es gebe zu viele Wiederholungstäter.
Die Chefin der rechten Feministinnen unterstützt das Rassemblement national (RN), die rechtsnationale Partei von Marine Le Pen. In ihrer Jugend war die 27-Jährige weitaus extremer. Mit 15 hatte sie sich in ihrer Heimatstadt Orléans der Action française angeschlossen, einer rechtsradikalen Gruppe, die von der Wiedereinführung der Monarchie träumt. Neben einem Studium der Rechts- und Sozialwissenschaften bildete sie sich am Institut für politische Bildung weiter, einer katholisch-konservativen Denkfabrik. Dort lernte sie viel über Kommunikation und Taktiken, auch im Umgang mit dem politischen Gegner.
Einmal, im November 2021, marschierte sie mit anderen Mitgliedern des Collectif Némésis bei einer feministischen Demonstration gegen sexuelle Gewalt mit. Während der Kundgebung entrollten sie plötzlich ein Transparent mit einer verstörenden Botschaft: „99 Prozent der Afghanen befürworten die Scharia und 85 Prozent die Steinigung von ehebrecherischen Frauen. Frauenhass ist keine kulturelle Bereicherung!“ Diese Zahlen stammen aus einer Umfrage des amerikanischen Pew Research Center von 2013, aber nach der Herkunft der Zahlen fragte an jenem Tag niemand. Mitglieder des linksextremen schwarzen Blocks gingen zum Angriff über, es flogen Flaschen, und die Aktivistinnen flüchteten in ein Café.
Mittlerweile hat das Collectif Némésis, das sich aus Spenden finanziert, fünf Festangestellte und 250 Aktivistinnen. Es gebe Verbindungen zu anderen Frauengruppen in Europa, nach Grossbritannien zum umstrittenen Islamkritiker Tommy Robinson, und auch zur französischsprachigen Schweiz, wo das Kollektiv viele Sympathisanten habe. Für die Politologin Della Sudda ist das Collectif Némésis ein Paradebeispiel, wie identitäre Gruppen feministische Rhetorik und Aktionsformen für fremdenfeindliche Zwecke instrumentalisierten. Die Aktivistinnen seien das Produkt eines Kulturkampfes, der den Linken ihre intellektuelle Hegemonie streitig mache, glaubt sie.
Doch die Gruppe ist mittlerweile salonfähig geworden, das zeigte kürzlich eine Pressekonferenz zur inneren Sicherheit in Paris. Dort hatte sie dem Innenminister die Frage gestellt, ob die Regierung die Auflösung der linksextremen Gruppe La Jeune Garde in Erwägung ziehe. Dieser antwortete mit einem Lob: 2Bravo für Ihren Kampf. Sie wissen, dass ich Ihnen sehr nahestehe.“ Erst später, als sich eine Welle der Empörung über den Innenminister ergoss, erklärte ein Sprecher, der Minister habe nicht gewusst, dass die jungen Frauen auch „radikale Positionen“ vertreten.