Fast die Hälfte der in Europa lebenden Muslime findet, dass es nur eine gültige Auslegung des Koran gibt, dass Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollen und dass religiöse Gesetze wichtiger sind als weltliche. Anhand dieser Indikatoren zeigt eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) in sechs Ländern, dass der religiöse Fundamentalismus unter Muslimen deutlich weiter verbreitet ist als unter Christen. Der Befund ist insofern besorgniserregend, als mit religiösem Fundamentalismus ein erhöhtes Maß an Fremdenfeindlichkeit einhergeht.
Während der hitzigen Kontroversen über Einwanderung, Terrorismus und Islam wurden Muslime in der öffentlichen Wahrnehmung weithin mit religiösem Fundamentalismus in Verbindung gebracht. Mancher hat gegen diese Assoziation argumentiert, der religiöse Fundamentalismus sei nur unter einer kleinen Minderheit der im Westen lebenden Muslime anzutreffen und sei auch unter Anhängern anderer Religionen zu finden, also auch im Christentum. Doch den Behauptungen beider Seiten fehlt eine solide empirische Basis. Über die Verbreitung des religiösen Fundamentalismus unter muslimischen Einwanderern ist wenig bekannt. Es gibt praktisch keine aussagekräftigen Daten, die einen Vergleich mit einheimischen Christen erlauben.
Die Studie des WZB zu Einwanderern und Einheimischen in sechs europäischen Ländern – Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Österreich und Schweden – stellt erstmals eine solide empirische Basis zur Beantwortung dieser Fragen bereit. Es wurden 9.000 Personen mit türkischem oder marokkanischem Migrationshintergrund und eine einheimische Vergleichsgruppe befragt. Religiöser Fundamentalismus lässt sich in der Wissenschaft anhand von drei Schlüsselelementen definieren:
- Die Gläubigen sollen zu den ewigen und unabänderlichen Regeln, die in der Vergangenheit festgelegt wurden, zurückkehren.
- Diese Regeln lassen nur eine Interpretation zu und sind für alle Gläubigen bindend.
- Religiöse Regeln haben Vorrang vor weltlichen Gesetzen.
Diese Aspekte des Fundamentalismus wurden anhand folgender Aussagen gemessen, die Einheimischen, die sich als Christen bezeichneten (das waren 70 Prozent der befragten Einheimischen), und Befragten türkischer und marokkanischer Herkunft, von denen sich 96 Prozent als Muslime bezeichneten, vorgelegt wurden:
- „Christen/Muslime sollten zu den Wurzeln des Christentums/Islam zurückkehren.“
- „Es gibt nur eine Auslegung der Bibel/des Korans und alle Christen/Muslime müssen sich daran halten.“
- „Die Regeln der Bibel/des Korans sind mir wichtiger als die Gesetze des Landes, in dem ich lebe.“
Die Grafik zeigt, dass religiöser Fundamentalismus in den westeuropäischen muslimischen Gemeinschaften kein Randphänomen ist. Fast 60 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollten. 75 Prozent meinen, dass nur eine Auslegung des Korans möglich ist, an die sich alle Muslime halten sollten und 65 Prozent sagen, dass ihnen religiöse Regeln wichtiger sind als die Gesetze des Landes, in dem sie leben. Durchgängig fundamentalistische Überzeugungen mit der Zustimmung zu allen drei Aussagen finden sich bei 44 Prozent der befragten Muslime. Unter sunnitischen Muslimen mit türkischem Hintergrund (45 Prozent Zustimmung zu allen drei Aussagen) sind fundamentalistische Haltungen etwas seltener als unter solchen mit marokkanischem Hintergrund (50 Prozent). Unter Aleviten, einer türkischen Minderheitsglaubensrichtung innerhalb des Islam, kommen fundamentalistische Überzeugungen viel seltener vor (15 Prozent).
Entgegen der Annahme, dass der Fundamentalismus eine Reaktion auf die Ausgrenzung durch das Gastland ist, finden wir den niedrigsten Grad an Fundamentalismus in Deutschland. Doch selbst unter deutschen Muslimen sind fundamentalistische Ansichten weit verbreitet: 30 Prozent der Befragten stimmen allen drei Aussagen zu. Vergleiche mit anderen deutschen Studien zeigen bemerkenswert ähnliche Ergebnisse auf. So stimmten in der Studie „Muslime in Deutschland“ 47 Prozent der befragten deutschen Muslime der Aussage zu, das Befolgen der Regeln der eigenen Religion sei wichtiger als die Demokratie, genauso viele, wie der Anteil jener in unserer Studie, die meinten, dass die Regeln des Koran wichtiger sind als die deutschen Gesetze.
Ein weiterer bemerkenswerter Befund ist, dass religiöser Fundamentalismus unter Muslimen sehr viel weiter verbreitet ist als unter einheimischen Christen. Zwischen 13 und 21 Prozent der Christen stimmen den einzelnen Aussagen zu, und weniger als 4 Prozent können als konsistente Fundamentalisten bezeichnet werden, da sie allen drei Aussagen zustimmen. In Übereinstimmung mit dem bisherigen Wissensstand über den christlichen Fundamentalismus ist die Zustimmung zu diesen Aussagen unter den Anhängern der Hauptströmung des Protestantismus (4 Prozent stimmen allen Aussagen zu) etwas höher als unter Katholiken (3 Prozent) und am ausgeprägtesten (12 Prozent) unter den Anhängern kleinerer protestantischer Gruppen. Doch selbst unter diesen Gruppen ist die Befürwortung des Fundamentalismus wesentlich geringer als unter sunnitischen Muslimen. Die Ansicht der türkischen Aleviten über die Rolle der Religion gleicht dagegen viel stärker der der einheimischen Christen als der der sunnitischen Muslime.
Da sich die demografischen und sozioökonomischen Profile der muslimischen Einwanderer und der einheimischen Christen stark unterscheiden, und da es aus der Literatur bekannt ist, dass sich marginalisierte Menschen der Unterschicht stärker von fundamentalistischen Bewegungen angezogen fühlen, wäre es natürlich möglich, dass diese Unterschiede auf die soziale Klasse und nicht auf die Religion zurückzuführen sind. Ein Grund zur Sorge ist die Tatsache, dass fundamentalistische Haltungen unter jungen Muslimen ebenso weitverbreitet sind wie unter älteren, während sie bei jungen Christen sehr viel seltener anzutreffen sind als bei älteren Christen.
Die Forschung zum christlichen Fundamentalismus in den USA hat eine starke Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen aufgezeigt, die als Bedrohung der religiösen Eigengruppe gesehen werden. In welchem Umfang findet man diese Verbindung auch im europäischen Kontext? Hier helfen drei Fragestellungen weiter:
- „Ich möchte keine Homosexuellen als Freunde haben.“
- „Juden kann man nicht trauen.“
- „Die Muslime wollen die westliche Kultur zerstören.“/„Die westlichen Länder wollen den Islam zerstören.“
Hier zeigt sich, dass die Feindseligkeit gegenüber Fremden unter einheimischen Christen keineswegs zu vernachlässigen ist. Immerhin 9 Prozent sind offen antisemitisch und stimmen der Aussage zu, dass man Juden nicht trauen kann. In Deutschland ist dieser Prozentsatz sogar noch höher (11 Prozent). Ähnlich viele lehnen Homosexuelle als Freunde ab (durchschnittlich 13 Prozent in allen Ländern, 10 Prozent in Deutschland). Muslime sind wenig überraschend die Fremdgruppe, die den höchsten Grad an Feindlichkeit hervorruft: 23 Prozent der einheimischen Christen (in Deutschland 17 Prozent) glauben, dass die Muslime die westliche Kultur zerstören wollen. Nur wenige einheimische Christen sind allen drei Gruppen gegenüber feindselig eingestellt (1,6 Prozent). Wenn wir alle Einheimischen in Betracht ziehen und nicht nur die Christen, ist das Niveau der Fremdenfeindlichkeit etwas geringer (8 Prozent gegen Juden, 10 Prozent gegen Homosexuelle, 21 Prozent gegen Muslime und 1,4 Prozent gegen alle drei).
Diese Zahlen für Einheimische sind schon beunruhigend genug, doch sie werden durch den Grad der Fremdgruppenfeindlichkeit unter europäischen Muslimen weit in den Schatten gestellt. Fast 60 Prozent lehnen Homosexuelle als Freunde ab, und 45 Prozent denken, dass man Juden nicht trauen kann. Während etwa jeder fünfte Einheimische als islamfeindlich gelten kann, ist das Ausmaß der Phobie gegen den Westen – für die es sonderbarerweise kein Wort gibt, man könnte sie „Abendlandphobie“ nennen – unter Muslimen viel höher: 45 Prozent glauben, dass der Westen den Islam zerstören will. Diese Resultate stimmen mit dem Ergebnis einer Studie des Pew Research Center überein, wonach etwa die Hälfte der Muslime in Frankreich, Deutschland und Großbritannien glaubt, dass die Anschläge vom 11. September nicht von Muslimen ausgeübt wurden, sondern vom Westen und/oder von Juden geplant wurden.
Ein gutes Viertel der Muslime zeigt Feindlichkeit gegenüber allen drei Fremdgruppen. Im Gegensatz zu den Ergebnissen zum religiösen Fundamentalismus ist die Fremdgruppenfeindlichkeit unter türkischstämmigen Muslimen (30 Prozent stimmen allen drei Aussagen zu) weiter verbreitet als unter marokkanisch-stämmigen Muslimen (17 Prozent). Unter Aleviten (13 Prozent stimmen allen drei Aussagen zu) ist der Grad der Fremdgruppenfeindlichkeit wesentlich geringer als unter sunnitischen Muslimen türkischer Herkunft (31 Prozent), die Differenz ist jedoch kleiner als beim religiösen Fundamentalismus. Ein besorgniserregender Aspekt ist der Fakt, dass die Fremdgruppenfeindlichkeit unter jungen Muslimen nicht wesentlich geringer ist als unter älteren, während unter einheimischen Christen der Unterschied zwischen den Generationen beachtlich ist.
Auch hier muss sichergestellt werden, dass die Differenzen zwischen Muslimen und Einheimischen nicht auf die unterschiedliche demografische und sozioökonomische Zusammensetzung dieser Gruppen zurückzuführen ist, denn es ist bekannt, dass Fremdenfeindlichkeit unter sozial benachteiligten Gruppen höher ist. Zudem sind die Gruppendifferenzen viel größer als die sozioökonomischen Unterschiede. So ist der Unterschied in der Fremdenfeindlichkeit zwischen Personen mit niedrigem Bildungsniveau und solchen mit Universitätsabschluss etwa halb so groß wie der Unterschied zwischen Muslimen und einheimischen Christen.
Wenn wir den religiösen Fundamentalismus mitberücksichtigen, erweist dieser sich als das mit Abstand wichtigste Zeichen für Fremdgruppenfeindlichkeit und erklärt die meisten Differenzen in den Niveaus dieser zwischen Muslimen und Christen. Auch die größere Fremdgruppenfeindlichkeit unter türkischstämmigen Sunniten im Vergleich mit den Aleviten erklärt sich fast ausschließlich durch das höhere Niveau des religiösen Fundamentalismus unter den Sunniten. Der religiöse Fundamentalismus erklärt nicht nur, warum muslimische Einwanderer Fremdgruppen gegenüber generell feindlicher eingestellt sind als einheimische Christen, sondern auch, warum einige Christen und einige Muslime fremdenfeindlicher sind als andere.
Diese Befunde widersprechen ganz klar der oft gehörten Behauptung, dass islamischer religiöser Fundamentalismus in Westeuropa ein Randphänomen ist oder sein Ausmaß sich nicht vom Fundamentalismus unter Christen unterscheidet. Beide Behauptungen sind offensichtlich falsch, wenn fast die Hälfte der europäischen Muslime den Aussagen zustimmt, dass die Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollten, dass es nur eine einzige Auslegung des Koran gibt und dass die im Koran festgeschriebenen Regeln wichtiger sind als säkulare Gesetze. Von den einheimischen Christen kann nicht einmal jeder 25. in diesem Sinne als fundamentalistisch bezeichnet werden. Darüber hinaus ist religiöser Fundamentalismus keine unschuldige Form strenger Religiosität, wie die enge Beziehung zur Feindlichkeit gegenüber Fremdgruppen – sowohl bei Christen als auch bei Muslimen – zeigt.
Das Ausmaß des islamischen religiösen Fundamentalismus wie auch seine Korrelate – Homophobie, Antisemitismus und „Abendlandphobie“ – sollten bei politischen Entscheidungsträgern ebenso wie bei den Führern muslimischer Gemeinschaften ernsthafter Grund zur Besorgnis sein. Natürlich sollte religiöser Fundamentalismus nicht mit der Bereitschaft, religiös motivierte Gewalt zu unterstützen oder sich gar daran zu beteiligen, gleichgesetzt werden. Doch angesichts seiner starken Beziehung zur Fremdgruppenfeindlichkeit ist es sehr wahrscheinlich, dass er einen Nährboden für die Radikalisierung bietet. Gleichwohl sollte man auch nicht vergessen, dass die Muslime in Westeuropa nur eine relativ kleine Bevölkerungsminderheit sind. Relativ gesehen sind die Niveaus des Fundamentalismus und der Fremdgruppenfeindlichkeit unter Muslimen zwar viel höher, in absoluten Zahlen gibt es aber mindestens genauso viele christliche wie muslimische Fundamentalisten in Westeuropa, und die große Mehrheit der Homophobiker und Antisemiten sind nach wie vor Einheimische.
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