Das Schicksal eines Jungen mit Migrationshintergrund hat die Isländer während Monaten beschäftigt und nun die Regierungskoalition beendet. Die Eltern von Yazan Tamimi, der an einer degenerativen Muskelkrankheit leidet, beantragten vergangenen Herbst Asyl auf Island. Da sie via Spanien anreisten, wo sie erstmals registriert wurden, war die Sache für Islands Migrationsbehörde klar: Mit Verweis auf das Dublin-Abkommen entschied sie im Frühling, dass die Familie nach Spanien zurückgeschafft werden soll. Einzig die Regierung hätte dem in Krankenhaus befindlichen Jungen besondere Schutzrechte zugestehen können, liess eine halbjährige Frist jedoch verstreichen. Derweil setzten sich Behinderten- und Menschenrechtsorganisationen wie auch der behandelnde Arzt für das Kind ein, dem ihrer Meinung nach eine Ausweisung physisch wie psychisch geschadet hätte. Vor dem Parlament in Reykjavik kam es wiederholt zu Demonstrationen.
Die Proteste halfen zunächst nichts: Mitte September wurde die palästinensische Familie auf den Flughafen gebracht. Kurz vor der Abschiebung kam jedoch die Kehrtwende, und der Junge wurde unter Polizeieskorte wieder in medizinische Behandlung gebracht. Wenig später fand der schlagzeilenträchtige Fall ein vorläufiges Happy End, indem die Tamimis eine auf zwei Jahre begrenzte Aufenthaltsbewilligung erhielten.
Das Hin und Her um den palästinensischen Jungen illustriert Islands restriktivere Migrationspolitik. Seit Juli 2023 wird abgewiesenen Asylbewerbern, die sich der Abschiebung verweigern, die staatliche Unterstützung entzogen. Konkret erhalten sie 30 Tage nach einem negativen Asylentscheid weder Unterkunft oder Essen noch Gesundheitsleistungen. Das 2018 erstmals vorgelegte Gesetz erntete scharfe Kritik von internationalen Menschenrechtsorganisationen. Während der zuständige Minister während der Behandlung des Gesetzesvorschlags versichert hatte, dass sich die Gemeinden um Härtefälle kümmern würden, sehen die Kommunen nun keinen Grund dazu. Schon kurz nach der Einführung der neuen Regelung sorgten ein Dutzend Migranten für Schlagzeilen, die nach dem Rauswurf aus Flüchtlingszentren auf der Strasse lebten und in Mülltonnen nach Essbarem suchten.
Hohe Wellen schlug letzten November auch die Abschiebung von 180 Venezolanern. Gemäss Recherchen der investigativen Wochenzeitung „Heimildin“ wurden die abgewiesenen Asylbewerber nach der Ankunft in ihrer Heimat von der Polizei festgenommen, die ihnen ihr Geld abnahm und sie mehrere Tage verhörte. Für Flüchtlinge aus der heruntergewirtschafteten Diktatur war Island zu einem sicheren Zufluchtsort geworden, der ihnen fast ausnahmslos Asyl gewährte.
Meinungsverschiedenheiten über die Ausrichtung der Migrationspolitik haben das Zerwürfnis der isländischen Koalition beschleunigt. Nur Tage nach dem positiven Entscheid für den Palästinenser Yazan beantragte Ministerpräsident Bjarni Benediktsson von der liberalkonservativen Unabhängigkeitspartei die Entlassung der Regierung und die Auflösung des Parlaments. Bis die Bevölkerung am 30. November, ein Jahr vor dem regulären Termin, an die Urne gerufen wird, führen die Liberal-Konservativen und die Zentristen die Regierungsgeschäfte. Die Links-Grünen dagegen machen nicht mehr mit und konzentrieren sich auf den Wahlkampf.
Nachdem die Koalition in einer von Covid-Pandemie, Vulkanausbrüchen, hoher Inflation und Konjunkturschwäche geprägten Zeit lange am selben Strick gezogen hatte, sind die Differenzen jüngst unüberbrückbar geworden. Benediktssons Liberale und die Links-Grünen waren ausser in der Migrationspolitik auch in aussen-, wirtschafts- und energiepolitischen Fragen auf Kollisionskurs. Letztes Jahr hatte die Fischereiministerin Svandis Svavarsdottir, inzwischen frischgebackene Chefin der Rot-Grünen, ihre Regierungskollegen düpiert, indem sie den Walfang verbieten liess. Das Verbot hielt nur kurze Zeit, da der parlamentarische Ombudsmann es für gesetzeswidrig befand. Die Bevölkerung mit 400.000 Einwohnern quittiert die anhaltenden Streitigkeiten mit einer rekordtiefen Unterstützung der Regierungsparteien, was angesichts der nahenden Wahlen immer belastender wurde.