Der Zustrom von Migranten nach Europa nimmt weiter zu. Mehr als 70.000 Menschen brachen in diesem Jahr aus Tunesien nach Italien auf, weitere 32.000 aus Libyen. Die verheerenden Naturkatastrophen der vergangenen Tage in Nordafrika können langfristig die Zahlen noch weiter anschwellen lassen. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) berichtet, seit Jahresbeginn seien mehr als 2.000 Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute verschollen. Gut 35.000 Migranten haben die tunesischen Sicherheitskräfte nach eigenen Angaben gestoppt. Zugleich mehren sich Überfälle auf Flüchtlingsboote. Den Migranten werden Geld und Telefone abgenommen. Dann werden die Motoren von den Booten abmontiert, um sie an Schlepper zu verkaufen, die Menschen werden ihrem Schicksal überlassen.
Ungeachtet dieser zusätzlichen Risiken auf der ohnedies gefährlichen Überfahrt registriert Italien immer mehr Ankünfte von Migranten, vor allem auf der Insel Lampedusa, dem südlichsten Außenposten im Mittelmeer. Nach Angaben des Innenministeriums waren es seit Jahresbeginn rund 108.000. Im Vorjahreszeitraum waren es etwa 53.000, 2021 rund 37.000.
Zunächst waren Europas Spitzenpolitiker in Tunis, um in Kooperation mit dem immer autoritär regierenden tunesischen Präsidenten einen Deal zu unterziehen, der die illegale Migration nach Europa eindämmen soll. Um kein anderes Land in Nordafrika hat sich die EU zuletzt so sehr bemüht wie um Tunesien. Treibende Kraft bei diesen Bemühungen war und ist die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die mit dem Wahlversprechen angetreten war, die irreguläre Migration deutlich zu verringern. Doch das Partnerschaftsabkommen, das die EU-Führung am 16. Juli mit Präsident Kaïs Saïed unterzeichnete, blieb bisher wirkungslos. Der Pakt sollte als Modell für andere Staaten in der Region dienen.
105 Millionen Euro für mehr Grenzschutz waren für Tunis ebenso wenig überzeugend wie Finanzhilfen in Höhe von 150 Millionen. Und auch nicht von dem möglichen 900-Millionen-Kredit, den das Land erhalten soll, wenn Saïed dem Reformprogramm des IWF zustimmt. Denn der autoritär regierende Präsident hat neue Partner gefunden, die weniger Bedingungen stellen. Saudi-Arabien gewährt ein zinsgünstiges Darlehen über 400 Millionen Dollar und dazu 100 Millionen Dollar als direkte Budgethilfe. Zudem sollen vom saudischen Entwicklungsfonds Finanzhilfen kommen. Anders als Brüssel verlangt Riad nicht, dass Tunis sich zuvor mit dem IWF einigt.
In den fünf Wochen nach dem Abkommen der EU mit Tunesien sind 38 Prozent mehr Migranten aus dem nordafrikanischen Land nach Italien gekommen als in den fünf Wochen davor, hat der Thinktank ISPI ermittelt.
Nun sagt die Kommune in Lampedusa, wo die meisten Flüchtlinge landen, das Lager sei „absolut nicht mehr in der Lage, weitere Flüchtlinge aufzunehmen“. Allein an einem Tag erreichten binnen 24 Stunden 63 Flüchtlingsboote mit rund 1.900 Personen die Insel. Das Erstaufnahmelager war mit fast 4.000 Menschen – unter ihnen rund 250 unbegleitete Jugendliche – um das Zehnfache seiner vorgesehenen Kapazität überbelegt. Die italienischen Behörden verlegen jeden Tag Hunderte Migranten mit der Linienfähre und mit Militärflugzeugen nach Sizilien und aufs Festland, wo sie auf sekundäre Aufnahmezentren verteilt werden.
Die Gemeinden in Italien sind an ihr Limit gekommen: „Die Angelegenheit ist entgleist, wir sind am Rande des Zusammenbruchs“, warnt der sozialdemokratische Bürgermeister von Prato bei Florenz. Er ist beim Städte- und Gemeindeverband zuständig für Migration. „Wen immer wir fragen, vom Norden bis zum Süden, alle Kommunen berichten von extremen Schwierigkeiten bei der Unterbringung der Migranten, die uns von der Regierung in Rom zugewiesen werden“. Manchenorts müssten Menschen in Turnhallen oder Zelten untergebracht werden. Als „Notlage in der Notlage“ wird die Situation der unbegleiteten Minderjährigen beschrieben, deren Zahl dieses Jahr auf mehr als 20.000 gestiegen sei.
Es ist also wieder so weit: Europa debattiert wieder einmal für ein paar Tage über die Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen und ein neues Leben in Europa suchen, obwohl es seit Monaten, seit Jahren jeden Tag Anlass genug gegeben hätte, darüber zu reden, was sich da gerade vor und an den Küsten Europas ereignet. Es ist eine große Tragödie, ein großes Versagen, eine große Schmach nicht nur für Italien, auch für Europa.
In Europa machen sich gerade viele Regierungen einen schlanken Fuß. Natürlich, es sind zuerst die Italiener, die sich der Situation stellen müssen, sie sind am nächsten dran. In der EU gilt die Regel, dass die Mitgliedstaaten für die Sicherung der jeweils in ihrer Hoheit liegenden Außengrenze zuständig sind und damit auch für die Umgang mit Migranten, die auf ihr Territorium kommen. Aber der Ansturm aus dem Süden, der viele Gründe hat von Bürgerkrieg bis Klimawandel, ist so epochal, dass Europa helfen muss. Ernsthaft, umfassend, schnell. Aber es wird bloß ein bisschen geredet, meistens in Brüsseler Konferenzsälen. Um ein wenig Aktionismus zu zeigen, reisen EU-Politiker, wie es Meloni, Rutte und von der Leyen im Frühsommer gemacht haben, zu nicht immer vertrauenswürdigen Staatschefs in der MENA-Region, von denen sie hoffen, sie könnten für ein paar Euro einfach eine Mauer an ihren Küsten und Außengrenzen errichten. So versuchen sie zu Hause die Öffentlichkeit zu beruhigen, oder aber zu signalisieren, dass nicht sie es sind, die verantwortlich sind für die steigenden Zahlen. Lange wird eine solche Politik des Wegschauens nicht mehr funktionieren. Es ist an der Zeit, dass Europa umdenkt: In Politik und Gesellschaft!
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